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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846.

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weinen müssen, indem ich die Begebnisse meines Le-
bens, meine Verirrungen und die Ursachen der letz-
tern, niederschreibe, und eben deshalb schreibe ich sie
nieder.

-- Jch habe meine Mutter nie gekannt. Wenige
Jahre, nachdem sie mir das Leben gegeben hatte, und
noch bevor ich meinem aufkeimenden Gedächtnisse ihr
Bild hatte einprägen können, ereilte sie der Tod, in-
dem sie meinem Bruder das Leben gab.

Jhre Ehe mit meinem Vater, einem zwar reichen
und angesehenen, ja selbst geachteten Manne, war
keine glückliche gewesen. Nur wider ihren Willen,
fast gezwungen von ihren Eltern und mit einer an-
dern Liebe im Herzen, hatte sie meinem Vater ihre
Hand gegeben. Daß eine unter solchen Umständen
geschlossene Ehe keine glückliche seyn konnte, versteht
sich von selbst, und schon der finstre, zum Mißtrauen
und zur Jsolirung geneigte Character meines Vaters
stand dem Glücke des Paares im Wege.

Trotz dem liebte er seine Gattin mit der vollsten
Zärtlichkeit seines Herzens, wie ich aus vielen ihm in
späteren Jahren entschlüpften Aeußerungen entnehmen
konnte. Jndeß war diese Liebe doch der Art, daß
sie das Herz einer Frau nicht ausfüllen konnte, die
nur gezwungen in das Bündniß gewilligt und seit
längerer Zeit schon einen Andern geliebt hatte, und

weinen müſſen, indem ich die Begebniſſe meines Le-
bens, meine Verirrungen und die Urſachen der letz-
tern, niederſchreibe, und eben deshalb ſchreibe ich ſie
nieder.

— Jch habe meine Mutter nie gekannt. Wenige
Jahre, nachdem ſie mir das Leben gegeben hatte, und
noch bevor ich meinem aufkeimenden Gedächtniſſe ihr
Bild hatte einprägen können, ereilte ſie der Tod, in-
dem ſie meinem Bruder das Leben gab.

Jhre Ehe mit meinem Vater, einem zwar reichen
und angeſehenen, ja ſelbſt geachteten Manne, war
keine glückliche geweſen. Nur wider ihren Willen,
faſt gezwungen von ihren Eltern und mit einer an-
dern Liebe im Herzen, hatte ſie meinem Vater ihre
Hand gegeben. Daß eine unter ſolchen Umſtänden
geſchloſſene Ehe keine glückliche ſeyn konnte, verſteht
ſich von ſelbſt, und ſchon der finſtre, zum Mißtrauen
und zur Jſolirung geneigte Character meines Vaters
ſtand dem Glücke des Paares im Wege.

Trotz dem liebte er ſeine Gattin mit der vollſten
Zärtlichkeit ſeines Herzens, wie ich aus vielen ihm in
ſpäteren Jahren entſchlüpften Aeußerungen entnehmen
konnte. Jndeß war dieſe Liebe doch der Art, daß
ſie das Herz einer Frau nicht ausfüllen konnte, die
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[94/0100] weinen müſſen, indem ich die Begebniſſe meines Le- bens, meine Verirrungen und die Urſachen der letz- tern, niederſchreibe, und eben deshalb ſchreibe ich ſie nieder. — Jch habe meine Mutter nie gekannt. Wenige Jahre, nachdem ſie mir das Leben gegeben hatte, und noch bevor ich meinem aufkeimenden Gedächtniſſe ihr Bild hatte einprägen können, ereilte ſie der Tod, in- dem ſie meinem Bruder das Leben gab. Jhre Ehe mit meinem Vater, einem zwar reichen und angeſehenen, ja ſelbſt geachteten Manne, war keine glückliche geweſen. Nur wider ihren Willen, faſt gezwungen von ihren Eltern und mit einer an- dern Liebe im Herzen, hatte ſie meinem Vater ihre Hand gegeben. Daß eine unter ſolchen Umſtänden geſchloſſene Ehe keine glückliche ſeyn konnte, verſteht ſich von ſelbſt, und ſchon der finſtre, zum Mißtrauen und zur Jſolirung geneigte Character meines Vaters ſtand dem Glücke des Paares im Wege. Trotz dem liebte er ſeine Gattin mit der vollſten Zärtlichkeit ſeines Herzens, wie ich aus vielen ihm in ſpäteren Jahren entſchlüpften Aeußerungen entnehmen konnte. Jndeß war dieſe Liebe doch der Art, daß ſie das Herz einer Frau nicht ausfüllen konnte, die nur gezwungen in das Bündniß gewilligt und ſeit längerer Zeit ſchon einen Andern geliebt hatte, und

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Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 2. Jena, 1846, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet02_1846/100>, abgerufen am 22.05.2024.