Arnolds Lage war die peinlichste von der Welt. Es wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß die unglückliche Dina ein großes, vielleicht furchtbares Ge- heimniß auf dem Herzen habe und auf dem Punkte stehe, es wider ihren Willen vor ihm zu enthüllen: hatte sie doch schon gesprochen und konnte noch mehr sprechen! Sollte er das abwarten und sich so ge- wissermaßen, ihren Zustand mißbrauchend, in ihr Ge- heimniß drängen? oder ihr ein tödtliches Erschrecken bereiten, indem er sie durch Nennung ihres Namens aufweckte? Er wußte sich nicht zu helfen, nicht zu rathen; ja, er wagte sich nicht vom Stuhle zu be- wegen, aus Furcht, ihr dadurch seine Gegenwart zu verrathen; so blieb er, unschlüssig was er thun solle, unbeweglich, wie von einem geheimen Zauber gefes- selt, auf seinem Platze sitzen, das Auge starr auf die Nachtwandlerin geheftet.
Die Thränen Dina's fingen endlich an, sanfter zu fließen; sie trocknete sich mit einem mitgebrachten Tuche Augen und Wangen ab, strich sich die entfes- selten, von Thränen feucht gewordenen Haare aus der Stirn, erhob sich von ihrem Sitze, trat, mit einer Miene, worin mehr Ruhe als zuvor und sogar einige Entschlossenheit lag, an das unangezündet auf der Console stehende Licht und sagte, ein Convolut Pa- piere aus dem Busen hervornehmend:
Arnolds Lage war die peinlichſte von der Welt. Es wurde ihm in dieſem Augenblick klar, daß die unglückliche Dina ein großes, vielleicht furchtbares Ge- heimniß auf dem Herzen habe und auf dem Punkte ſtehe, es wider ihren Willen vor ihm zu enthüllen: hatte ſie doch ſchon geſprochen und konnte noch mehr ſprechen! Sollte er das abwarten und ſich ſo ge- wiſſermaßen, ihren Zuſtand mißbrauchend, in ihr Ge- heimniß drängen? oder ihr ein tödtliches Erſchrecken bereiten, indem er ſie durch Nennung ihres Namens aufweckte? Er wußte ſich nicht zu helfen, nicht zu rathen; ja, er wagte ſich nicht vom Stuhle zu be- wegen, aus Furcht, ihr dadurch ſeine Gegenwart zu verrathen; ſo blieb er, unſchlüſſig was er thun ſolle, unbeweglich, wie von einem geheimen Zauber gefeſ- ſelt, auf ſeinem Platze ſitzen, das Auge ſtarr auf die Nachtwandlerin geheftet.
Die Thränen Dina’s fingen endlich an, ſanfter zu fließen; ſie trocknete ſich mit einem mitgebrachten Tuche Augen und Wangen ab, ſtrich ſich die entfeſ- ſelten, von Thränen feucht gewordenen Haare aus der Stirn, erhob ſich von ihrem Sitze, trat, mit einer Miene, worin mehr Ruhe als zuvor und ſogar einige Entſchloſſenheit lag, an das unangezündet auf der Conſole ſtehende Licht und ſagte, ein Convolut Pa- piere aus dem Buſen hervornehmend:
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Arnolds Lage war die peinlichſte von der Welt.
Es wurde ihm in dieſem Augenblick klar, daß die
unglückliche Dina ein großes, vielleicht furchtbares Ge-
heimniß auf dem Herzen habe und auf dem Punkte
ſtehe, es wider ihren Willen vor ihm zu enthüllen:
hatte ſie doch ſchon geſprochen und konnte noch mehr
ſprechen! Sollte er das abwarten und ſich ſo ge-
wiſſermaßen, ihren Zuſtand mißbrauchend, in ihr Ge-
heimniß drängen? oder ihr ein tödtliches Erſchrecken
bereiten, indem er ſie durch Nennung ihres Namens
aufweckte? Er wußte ſich nicht zu helfen, nicht zu
rathen; ja, er wagte ſich nicht vom Stuhle zu be-
wegen, aus Furcht, ihr dadurch ſeine Gegenwart zu
verrathen; ſo blieb er, unſchlüſſig was er thun ſolle,
unbeweglich, wie von einem geheimen Zauber gefeſ-
ſelt, auf ſeinem Platze ſitzen, das Auge ſtarr auf
die Nachtwandlerin geheftet.
Die Thränen Dina’s fingen endlich an, ſanfter
zu fließen; ſie trocknete ſich mit einem mitgebrachten
Tuche Augen und Wangen ab, ſtrich ſich die entfeſ-
ſelten, von Thränen feucht gewordenen Haare aus der
Stirn, erhob ſich von ihrem Sitze, trat, mit einer
Miene, worin mehr Ruhe als zuvor und ſogar einige
Entſchloſſenheit lag, an das unangezündet auf der
Conſole ſtehende Licht und ſagte, ein Convolut Pa-
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Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/181>, abgerufen am 27.07.2024.
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