Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822.

Bild:
<< vorherige Seite

Marias Gesicht gleicht einer weißen Rose, die ein
ätherischer röthlicher Hauch kaum sichtbar färbt. Ein
leises seliges Lächeln umschwebt die noch im Tode
frischblühenden Lippen des schönen Mundes, und
die gewölbten Augenlieder scheinen wie vor Wonne
über das blendende Licht des Paradieses geschlossen.
Alles drückende, beängstigende ist aus diesem Sterbe-
zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten
Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die
Aussicht ins Freie; zur linken steht ein Altar, mit
dem Bilde Moses und Aarons. Ehrfurchtsvolle
Stille herrscht unter den, um die Mutter ihres
Herrn versammelten Aposteln; Hoffnung erhebt
ihren Schmerz zur seligsten Wehmuth. Zwei von
ihnen beten leise am Fenster, die übrigen stehen, in
mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher,
an dessen Hauptende zur Rechten desselben Petrus
so eben einige erhebende Worte an seine Brüder
gerichtet zu haben scheint. Johannes steht in Weh-
muth versunken, einer der Apostel schwingt den
Weihrauchkessel zu den Füßen des Bettes. Der
mannichfaltigste Ausdruck tiefen Schmerzes belebt

Marias Geſicht gleicht einer weißen Roſe, die ein
ätheriſcher röthlicher Hauch kaum ſichtbar färbt. Ein
leiſes ſeliges Lächeln umſchwebt die noch im Tode
friſchblühenden Lippen des ſchönen Mundes, und
die gewölbten Augenlieder ſcheinen wie vor Wonne
über das blendende Licht des Paradieſes geſchloſſen.
Alles drückende, beängſtigende iſt aus dieſem Sterbe-
zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten
Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die
Ausſicht ins Freie; zur linken ſteht ein Altar, mit
dem Bilde Moſes und Aarons. Ehrfurchtsvolle
Stille herrſcht unter den, um die Mutter ihres
Herrn verſammelten Apoſteln; Hoffnung erhebt
ihren Schmerz zur ſeligſten Wehmuth. Zwei von
ihnen beten leiſe am Fenſter, die übrigen ſtehen, in
mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher,
an deſſen Hauptende zur Rechten deſſelben Petrus
ſo eben einige erhebende Worte an ſeine Brüder
gerichtet zu haben ſcheint. Johannes ſteht in Weh-
muth verſunken, einer der Apoſtel ſchwingt den
Weihrauchkeſſel zu den Füßen des Bettes. Der
mannichfaltigſte Ausdruck tiefen Schmerzes belebt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0095" n="85"/>
Marias Ge&#x017F;icht gleicht einer weißen Ro&#x017F;e, die ein<lb/>
ätheri&#x017F;cher röthlicher Hauch kaum &#x017F;ichtbar färbt. Ein<lb/>
lei&#x017F;es &#x017F;eliges Lächeln um&#x017F;chwebt die noch im Tode<lb/>
fri&#x017F;chblühenden Lippen des &#x017F;chönen Mundes, und<lb/>
die gewölbten Augenlieder &#x017F;cheinen wie vor Wonne<lb/>
über das blendende Licht des Paradie&#x017F;es ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Alles drückende, beäng&#x017F;tigende i&#x017F;t aus die&#x017F;em Sterbe-<lb/>
zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten<lb/>
Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die<lb/>
Aus&#x017F;icht ins Freie; zur linken &#x017F;teht ein Altar, mit<lb/>
dem Bilde Mo&#x017F;es und Aarons. Ehrfurchtsvolle<lb/>
Stille herr&#x017F;cht unter den, um die Mutter ihres<lb/>
Herrn ver&#x017F;ammelten Apo&#x017F;teln; Hoffnung erhebt<lb/>
ihren Schmerz zur &#x017F;elig&#x017F;ten Wehmuth. Zwei von<lb/>
ihnen beten lei&#x017F;e am Fen&#x017F;ter, die übrigen &#x017F;tehen, in<lb/>
mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher,<lb/>
an de&#x017F;&#x017F;en Hauptende zur Rechten de&#x017F;&#x017F;elben Petrus<lb/>
&#x017F;o eben einige erhebende Worte an &#x017F;eine Brüder<lb/>
gerichtet zu haben &#x017F;cheint. Johannes &#x017F;teht in Weh-<lb/>
muth ver&#x017F;unken, einer der Apo&#x017F;tel &#x017F;chwingt den<lb/>
Weihrauchke&#x017F;&#x017F;el zu den Füßen des Bettes. Der<lb/>
mannichfaltig&#x017F;te Ausdruck tiefen Schmerzes belebt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0095] Marias Geſicht gleicht einer weißen Roſe, die ein ätheriſcher röthlicher Hauch kaum ſichtbar färbt. Ein leiſes ſeliges Lächeln umſchwebt die noch im Tode friſchblühenden Lippen des ſchönen Mundes, und die gewölbten Augenlieder ſcheinen wie vor Wonne über das blendende Licht des Paradieſes geſchloſſen. Alles drückende, beängſtigende iſt aus dieſem Sterbe- zimmer verbannt; im Hintergrunde, zur rechten Seite des Bettes, gewährt eine offne Thüre die Ausſicht ins Freie; zur linken ſteht ein Altar, mit dem Bilde Moſes und Aarons. Ehrfurchtsvolle Stille herrſcht unter den, um die Mutter ihres Herrn verſammelten Apoſteln; Hoffnung erhebt ihren Schmerz zur ſeligſten Wehmuth. Zwei von ihnen beten leiſe am Fenſter, die übrigen ſtehen, in mannichfaltige Gruppen geordnet, dem Bette näher, an deſſen Hauptende zur Rechten deſſelben Petrus ſo eben einige erhebende Worte an ſeine Brüder gerichtet zu haben ſcheint. Johannes ſteht in Weh- muth verſunken, einer der Apoſtel ſchwingt den Weihrauchkeſſel zu den Füßen des Bettes. Der mannichfaltigſte Ausdruck tiefen Schmerzes belebt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/95
Zitationshilfe: Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/95>, abgerufen am 22.11.2024.