Die drei andere weit größeren Gemälde, ein Altarblatt mit zwei Seitentafeln, gehören zu den herrlichsten Kleinoden dieser überreichen Sammlung altdeutscher Meisterwerke. Die Mitteltafel führt uns zum Sterbebette der Mutter des Erlösers; nie sah ich den Tod so ganz aller seiner Schrecken beraubt, und doch so heilig, so rührend fromm dargestellt. Mitten in einem heitern, festlich ge- schmückten Zimmer, mit dem Fußende gegen den Anschauer gewendet, steht das schöne umhangene Bette, auf welchem Maria hinüberschlummernd ruht. Die Legende, welcher Schoreel, zu Folge seiner Religion, vollen Glauben beimessen mußte, belehrt uns, daß die Zeit machtlos an der Gestalt der Mutter des Heilandes vorüberging. Siebenzig Jahre lang wandelte sie auf Erden, und blühte immerfort in unverwelklicher Schönheit, die hold- seligste der Frauen. So ruht sie auch hier, und man kann sich bei ihrem Anblicke nicht des Gedan- kens erwehren, daß der Meister in ihr die schönen Züge der jungen Geliebten verewigte, die er mit so unbelohnter Treue lebenslang im Herzen trug.
Die drei andere weit größeren Gemälde, ein Altarblatt mit zwei Seitentafeln, gehören zu den herrlichſten Kleinoden dieſer überreichen Sammlung altdeutſcher Meiſterwerke. Die Mitteltafel führt uns zum Sterbebette der Mutter des Erlöſers; nie ſah ich den Tod ſo ganz aller ſeiner Schrecken beraubt, und doch ſo heilig, ſo rührend fromm dargeſtellt. Mitten in einem heitern, feſtlich ge- ſchmückten Zimmer, mit dem Fußende gegen den Anſchauer gewendet, ſteht das ſchöne umhangene Bette, auf welchem Maria hinüberſchlummernd ruht. Die Legende, welcher Schoreel, zu Folge ſeiner Religion, vollen Glauben beimeſſen mußte, belehrt uns, daß die Zeit machtlos an der Geſtalt der Mutter des Heilandes vorüberging. Siebenzig Jahre lang wandelte ſie auf Erden, und blühte immerfort in unverwelklicher Schönheit, die hold- ſeligſte der Frauen. So ruht ſie auch hier, und man kann ſich bei ihrem Anblicke nicht des Gedan- kens erwehren, daß der Meiſter in ihr die ſchönen Züge der jungen Geliebten verewigte, die er mit ſo unbelohnter Treue lebenslang im Herzen trug.
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0094"n="84"/><p>Die drei andere weit größeren Gemälde, ein<lb/>
Altarblatt mit zwei Seitentafeln, gehören zu den<lb/>
herrlichſten Kleinoden dieſer überreichen Sammlung<lb/>
altdeutſcher Meiſterwerke. Die Mitteltafel führt<lb/>
uns zum Sterbebette der Mutter des Erlöſers;<lb/>
nie ſah ich den Tod ſo ganz aller ſeiner Schrecken<lb/>
beraubt, und doch ſo heilig, ſo rührend fromm<lb/>
dargeſtellt. Mitten in einem heitern, feſtlich ge-<lb/>ſchmückten Zimmer, mit dem Fußende gegen den<lb/>
Anſchauer gewendet, ſteht das ſchöne umhangene<lb/>
Bette, auf welchem Maria hinüberſchlummernd<lb/>
ruht. Die Legende, welcher Schoreel, zu Folge<lb/>ſeiner Religion, vollen Glauben beimeſſen mußte,<lb/>
belehrt uns, daß die Zeit machtlos an der Geſtalt<lb/>
der Mutter des Heilandes vorüberging. Siebenzig<lb/>
Jahre lang wandelte ſie auf Erden, und blühte<lb/>
immerfort in unverwelklicher Schönheit, die hold-<lb/>ſeligſte der Frauen. So ruht ſie auch hier, und<lb/>
man kann ſich bei ihrem Anblicke nicht des Gedan-<lb/>
kens erwehren, daß der Meiſter in ihr die ſchönen<lb/>
Züge der jungen Geliebten verewigte, die er mit<lb/>ſo unbelohnter Treue lebenslang im Herzen trug.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[84/0094]
Die drei andere weit größeren Gemälde, ein
Altarblatt mit zwei Seitentafeln, gehören zu den
herrlichſten Kleinoden dieſer überreichen Sammlung
altdeutſcher Meiſterwerke. Die Mitteltafel führt
uns zum Sterbebette der Mutter des Erlöſers;
nie ſah ich den Tod ſo ganz aller ſeiner Schrecken
beraubt, und doch ſo heilig, ſo rührend fromm
dargeſtellt. Mitten in einem heitern, feſtlich ge-
ſchmückten Zimmer, mit dem Fußende gegen den
Anſchauer gewendet, ſteht das ſchöne umhangene
Bette, auf welchem Maria hinüberſchlummernd
ruht. Die Legende, welcher Schoreel, zu Folge
ſeiner Religion, vollen Glauben beimeſſen mußte,
belehrt uns, daß die Zeit machtlos an der Geſtalt
der Mutter des Heilandes vorüberging. Siebenzig
Jahre lang wandelte ſie auf Erden, und blühte
immerfort in unverwelklicher Schönheit, die hold-
ſeligſte der Frauen. So ruht ſie auch hier, und
man kann ſich bei ihrem Anblicke nicht des Gedan-
kens erwehren, daß der Meiſter in ihr die ſchönen
Züge der jungen Geliebten verewigte, die er mit
ſo unbelohnter Treue lebenslang im Herzen trug.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1822, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck02_1822/94>, abgerufen am 29.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.