Chasse celebre, und die armen verschüchterten Nonnen versicherten lange umsonst, daß sie gar nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver- kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angst selbst Bestätigung fand, trug indessen endlich den Sieg davon; die Plünderer glaubten sich von Descamps irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab. Nur erst nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen, daß mit dieser geforderten Chasse nichts mehr und nichts minder gemeint gewesen sey, als das Kleinod ihres Hauses, der Reliquienkasten der heiligen Ur- sula, den sie in ihrem Flandrischen Patois la Ryve zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das sie den richtigen französischen Ausdruck bis dahin nie gehört hatten.
Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt beinahe keinen an heitern malerischen Motifen reich- haltigern Stoff, als die Sage von der schönen hel- denmüthigen Ursula und ihren Gefährtinnen, welche Hemling hier zu einer Reihefolge von Darstellungen sehr glücklich zu benutzen wußte. Ursula war, wie die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der
Châsse célèbre, und die armen verſchüchterten Nonnen verſicherten lange umſonſt, daß ſie gar nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver- kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angſt ſelbſt Beſtätigung fand, trug indeſſen endlich den Sieg davon; die Plünderer glaubten ſich von Descamps irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab. Nur erſt nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen, daß mit dieſer geforderten Châsse nichts mehr und nichts minder gemeint geweſen ſey, als das Kleinod ihres Hauſes, der Reliquienkaſten der heiligen Ur- ſula, den ſie in ihrem Flandriſchen Patois la Ryve zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das ſie den richtigen franzöſiſchen Ausdruck bis dahin nie gehört hatten.
Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt beinahe keinen an heitern maleriſchen Motifen reich- haltigern Stoff, als die Sage von der ſchönen hel- denmüthigen Urſula und ihren Gefährtinnen, welche Hemling hier zu einer Reihefolge von Darſtellungen ſehr glücklich zu benutzen wußte. Urſula war, wie die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der
<TEI><text><body><divn="1"><p><hirendition="#aq"><pbfacs="#f0168"n="156"/><lb/>
Châsse célèbre</hi>, und die armen verſchüchterten<lb/>
Nonnen verſicherten lange umſonſt, daß ſie gar<lb/>
nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver-<lb/>
kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angſt ſelbſt<lb/>
Beſtätigung fand, trug indeſſen endlich den Sieg<lb/>
davon; die Plünderer glaubten ſich von Descamps<lb/>
irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab.<lb/>
Nur erſt nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen,<lb/>
daß mit dieſer geforderten <hirendition="#aq">Châsse</hi> nichts mehr und<lb/>
nichts minder gemeint geweſen ſey, als das Kleinod<lb/>
ihres Hauſes, der Reliquienkaſten der heiligen Ur-<lb/>ſula, den ſie in ihrem Flandriſchen Patois <hirendition="#aq">la Ryve</hi><lb/>
zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das ſie<lb/>
den richtigen franzöſiſchen Ausdruck bis dahin nie<lb/>
gehört hatten.</p><lb/><p>Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt<lb/>
beinahe keinen an heitern maleriſchen Motifen reich-<lb/>
haltigern Stoff, als die Sage von der ſchönen hel-<lb/>
denmüthigen Urſula und ihren Gefährtinnen, welche<lb/>
Hemling hier zu einer Reihefolge von Darſtellungen<lb/>ſehr glücklich zu benutzen wußte. Urſula war, wie<lb/>
die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[156/0168]
Châsse célèbre, und die armen verſchüchterten
Nonnen verſicherten lange umſonſt, daß ſie gar
nicht einmal wüßten, was man fordere; die unver-
kennbare Wahrheit, welche in ihrer Angſt ſelbſt
Beſtätigung fand, trug indeſſen endlich den Sieg
davon; die Plünderer glaubten ſich von Descamps
irre geleitet und zogen mit leeren Händen ab.
Nur erſt nach geraumer Zeit erfuhren die Nonnen,
daß mit dieſer geforderten Châsse nichts mehr und
nichts minder gemeint geweſen ſey, als das Kleinod
ihres Hauſes, der Reliquienkaſten der heiligen Ur-
ſula, den ſie in ihrem Flandriſchen Patois la Ryve
zu nennen gewohnt waren, ein Wort, für das ſie
den richtigen franzöſiſchen Ausdruck bis dahin nie
gehört hatten.
Die Legende der Märtyrer und Heiligen kennt
beinahe keinen an heitern maleriſchen Motifen reich-
haltigern Stoff, als die Sage von der ſchönen hel-
denmüthigen Urſula und ihren Gefährtinnen, welche
Hemling hier zu einer Reihefolge von Darſtellungen
ſehr glücklich zu benutzen wußte. Urſula war, wie
die Legende erzählt, die Tochter eines Königs, der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schopenhauer, Johanna: Johann van Eyck und seine Nachfolger. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1822, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schopenhauer_eyck01_1822/168>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.