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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Geschehens aufgestellt, aus der die Klassenbildung und Rechtsordnung sowie
alle Produktion und aller Tauschverkehr abgeleitet werden könne. Dann han-
delt es sich auch bei Dietzel um einen schiefen Rettungsversuch der älteren ab-
strakten Theorien, um eine Verwechselung von Axiom und Ursache, um eine
Verkennung der wirklichen Ursachen wirtschaftlichen Handelns, um einen
falschen Analogieschluß aus Mathematik und Begriffsjurisprudenz. Diese Wis-
senschaften deduzieren aus wenigen einheitlichen logischen Prämissen; die
Volkswirtschaftslehre will, wie jede Wissenschaft von realen Dingen, aus Ur-
sachen erklären; sie kann stellenweise die Hauptursachen allein berücksichtigen,
die Nebenursachen beiseite lassen, aber nie darf sie Ursache und logischen
Grund verwechseln. Außerdem ist Dietzel gegenüber der Einwand nicht zu
vergessen, den neuerdings Lexis gegen ihn erhoben hat; er sagt: die berech-
tigte isolierende Methode der Naturforscher, die die Folge einer Ursache iso-
liert beobachten, besteht darin, die anderen Ursachen durch das Experiment
auszuscheiden; so erkennen sie die Folge der einen untersuchten isolierten
Ursache klar. Die Verteidiger der Isolierungs- und Deduktionsmethode in den
Staatswissenschaften vergessen, daß sie nur in Gedanken, niemals in der Wirk-
lichkeit die Isolierung vornehmen; alle ihre Schlüsse ruhen also nicht auf
Beobachtung, sondern auf Vermutungen, resp. auf Beobachtungen von kompli-
zierten Wirkungen mehrerer Ursachen. Ihre Vermutungen bedürfen daher
stets der Berichtigung, jedenfalls sind sie nicht den naturwissenschaftlichen
Beobachtungen gleichzustellen.
So kommen wir zu dem einfachen Schlusse, daß die Volkswirtschaftslehre, in
ihrem breiteren Verstande (wie wir sie oben § 1 gegeben) aufgefaßt, notwendig
die Gesamtheit der natürlichen und geistigen Ursachen in Betracht zu ziehen
habe, daß sie da, wo andere Wissenschaften ihr schon für ihre Zwecek wissen-
schaftlich bearbeitete Ursachen liefern, diese benutze, wo das nicht der Fall
ist, die Untersuchung selbst vornehme, resp. da anknüpfe, wo die anderen Wis-
senschaften sie verlassen haben. Es handelt sich also um die schwierige Doppel-
aufgabe, die psychischen und organischen Ursachen des wirtschaftlichen Le-
bens einerseits und die psychischen andererseits als zwei selbständige Gruppen
von Ursachen heranzuziehen, und zwar jede für sich und dann beide in ihrem
Zusammenwirken.
11 Damit sind alle einseitig materialistischen Volkswirtschafts- und Soziallehren
abgelehnt, ebenso alle direkte oder indirekte Einbeziehung der Volkswirtschafts-
lehre in die Naturwissenschaft abgewiesen, wie sie ein großer Teil des Sozialis-
mus sowie der modernen Soziologie erstrebt. Es kann aber hinzugefügt wer-
den, daß selbst die Schüler von Marx, ja sogar sein Freund Engels neuerdings
ihren materialistischen Erklärungen die Deutung geben, daß sie gemeint hät-
ten, resp. meinten, die Verursachung aus rein natürlichen Elementen gehe in
bezug auf menschliches Handeln durch das Mittelglied des menschlichen Ge-
hirns, der menschlichen Gefühls-, Trieb-, Willens- und Gedankentätigkeit.
Sie geben also zu, daß diese natürlichen Tatsachen nur auf Körper und Geist
des Menschen wirken, und daß so die psychologische Erklärung der Handlungen
nicht überflüssig sei. Sie wissen nur ebensowenig, als wir anderen Sterblichen,
die Kausalkette von Gehirnmolekülen zu menschlichen psychischen Eigenschaf-
ten und zu Handlungen irgendwie aufzuhellen.
Geschehens aufgestellt, aus der die Klassenbildung und Rechtsordnung sowie
alle Produktion und aller Tauschverkehr abgeleitet werden könne. Dann han-
delt es sich auch bei Dietzel um einen schiefen Rettungsversuch der älteren ab-
strakten Theorien, um eine Verwechselung von Axiom und Ursache, um eine
Verkennung der wirklichen Ursachen wirtschaftlichen Handelns, um einen
falschen Analogieschluß aus Mathematik und Begriffsjurisprudenz. Diese Wis-
senschaften deduzieren aus wenigen einheitlichen logischen Prämissen; die
Volkswirtschaftslehre will, wie jede Wissenschaft von realen Dingen, aus Ur-
sachen erklären; sie kann stellenweise die Hauptursachen allein berücksichtigen,
die Nebenursachen beiseite lassen, aber nie darf sie Ursache und logischen
Grund verwechseln. Außerdem ist Dietzel gegenüber der Einwand nicht zu
vergessen, den neuerdings Lexis gegen ihn erhoben hat; er sagt: die berech-
tigte isolierende Methode der Naturforscher, die die Folge einer Ursache iso-
liert beobachten, besteht darin, die anderen Ursachen durch das Experiment
auszuscheiden; so erkennen sie die Folge der einen untersuchten isolierten
Ursache klar. Die Verteidiger der Isolierungs- und Deduktionsmethode in den
Staatswissenschaften vergessen, daß sie nur in Gedanken, niemals in der Wirk-
lichkeit die Isolierung vornehmen; alle ihre Schlüsse ruhen also nicht auf
Beobachtung, sondern auf Vermutungen, resp. auf Beobachtungen von kompli-
zierten Wirkungen mehrerer Ursachen. Ihre Vermutungen bedürfen daher
stets der Berichtigung, jedenfalls sind sie nicht den naturwissenschaftlichen
Beobachtungen gleichzustellen.
So kommen wir zu dem einfachen Schlusse, daß die Volkswirtschaftslehre, in
ihrem breiteren Verstande (wie wir sie oben § 1 gegeben) aufgefaßt, notwendig
die Gesamtheit der natürlichen und geistigen Ursachen in Betracht zu ziehen
habe, daß sie da, wo andere Wissenschaften ihr schon für ihre Zwecek wissen-
schaftlich bearbeitete Ursachen liefern, diese benutze, wo das nicht der Fall
ist, die Untersuchung selbst vornehme, resp. da anknüpfe, wo die anderen Wis-
senschaften sie verlassen haben. Es handelt sich also um die schwierige Doppel-
aufgabe, die psychischen und organischen Ursachen des wirtschaftlichen Le-
bens einerseits und die psychischen andererseits als zwei selbständige Gruppen
von Ursachen heranzuziehen, und zwar jede für sich und dann beide in ihrem
Zusammenwirken.
11 Damit sind alle einseitig materialistischen Volkswirtschafts- und Soziallehren
abgelehnt, ebenso alle direkte oder indirekte Einbeziehung der Volkswirtschafts-
lehre in die Naturwissenschaft abgewiesen, wie sie ein großer Teil des Sozialis-
mus sowie der modernen Soziologie erstrebt. Es kann aber hinzugefügt wer-
den, daß selbst die Schüler von Marx, ja sogar sein Freund Engels neuerdings
ihren materialistischen Erklärungen die Deutung geben, daß sie gemeint hät-
ten, resp. meinten, die Verursachung aus rein natürlichen Elementen gehe in
bezug auf menschliches Handeln durch das Mittelglied des menschlichen Ge-
hirns, der menschlichen Gefühls-, Trieb-, Willens- und Gedankentätigkeit.
Sie geben also zu, daß diese natürlichen Tatsachen nur auf Körper und Geist
des Menschen wirken, und daß so die psychologische Erklärung der Handlungen
nicht überflüssig sei. Sie wissen nur ebensowenig, als wir anderen Sterblichen,
die Kausalkette von Gehirnmolekülen zu menschlichen psychischen Eigenschaf-
ten und zu Handlungen irgendwie aufzuhellen.
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[90/0094] ¹⁰ Geschehens aufgestellt, aus der die Klassenbildung und Rechtsordnung sowie alle Produktion und aller Tauschverkehr abgeleitet werden könne. Dann han- delt es sich auch bei Dietzel um einen schiefen Rettungsversuch der älteren ab- strakten Theorien, um eine Verwechselung von Axiom und Ursache, um eine Verkennung der wirklichen Ursachen wirtschaftlichen Handelns, um einen falschen Analogieschluß aus Mathematik und Begriffsjurisprudenz. Diese Wis- senschaften deduzieren aus wenigen einheitlichen logischen Prämissen; die Volkswirtschaftslehre will, wie jede Wissenschaft von realen Dingen, aus Ur- sachen erklären; sie kann stellenweise die Hauptursachen allein berücksichtigen, die Nebenursachen beiseite lassen, aber nie darf sie Ursache und logischen Grund verwechseln. Außerdem ist Dietzel gegenüber der Einwand nicht zu vergessen, den neuerdings Lexis gegen ihn erhoben hat; er sagt: die berech- tigte isolierende Methode der Naturforscher, die die Folge einer Ursache iso- liert beobachten, besteht darin, die anderen Ursachen durch das Experiment auszuscheiden; so erkennen sie die Folge der einen untersuchten isolierten Ursache klar. Die Verteidiger der Isolierungs- und Deduktionsmethode in den Staatswissenschaften vergessen, daß sie nur in Gedanken, niemals in der Wirk- lichkeit die Isolierung vornehmen; alle ihre Schlüsse ruhen also nicht auf Beobachtung, sondern auf Vermutungen, resp. auf Beobachtungen von kompli- zierten Wirkungen mehrerer Ursachen. Ihre Vermutungen bedürfen daher stets der Berichtigung, jedenfalls sind sie nicht den naturwissenschaftlichen Beobachtungen gleichzustellen. So kommen wir zu dem einfachen Schlusse, daß die Volkswirtschaftslehre, in ihrem breiteren Verstande (wie wir sie oben § 1 gegeben) aufgefaßt, notwendig die Gesamtheit der natürlichen und geistigen Ursachen in Betracht zu ziehen habe, daß sie da, wo andere Wissenschaften ihr schon für ihre Zwecek wissen- schaftlich bearbeitete Ursachen liefern, diese benutze, wo das nicht der Fall ist, die Untersuchung selbst vornehme, resp. da anknüpfe, wo die anderen Wis- senschaften sie verlassen haben. Es handelt sich also um die schwierige Doppel- aufgabe, die psychischen und organischen Ursachen des wirtschaftlichen Le- bens einerseits und die psychischen andererseits als zwei selbständige Gruppen von Ursachen heranzuziehen, und zwar jede für sich und dann beide in ihrem Zusammenwirken. ¹¹ Damit sind alle einseitig materialistischen Volkswirtschafts- und Soziallehren abgelehnt, ebenso alle direkte oder indirekte Einbeziehung der Volkswirtschafts- lehre in die Naturwissenschaft abgewiesen, wie sie ein großer Teil des Sozialis- mus sowie der modernen Soziologie erstrebt. Es kann aber hinzugefügt wer- den, daß selbst die Schüler von Marx, ja sogar sein Freund Engels neuerdings ihren materialistischen Erklärungen die Deutung geben, daß sie gemeint hät- ten, resp. meinten, die Verursachung aus rein natürlichen Elementen gehe in bezug auf menschliches Handeln durch das Mittelglied des menschlichen Ge- hirns, der menschlichen Gefühls-, Trieb-, Willens- und Gedankentätigkeit. Sie geben also zu, daß diese natürlichen Tatsachen nur auf Körper und Geist des Menschen wirken, und daß so die psychologische Erklärung der Handlungen nicht überflüssig sei. Sie wissen nur ebensowenig, als wir anderen Sterblichen, die Kausalkette von Gehirnmolekülen zu menschlichen psychischen Eigenschaf- ten und zu Handlungen irgendwie aufzuhellen.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/94>, abgerufen am 28.04.2024.