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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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freilich nicht vorausgesetzt, wie Mill meint, alle Handlungen aller Men-
schen flössen allein aus ihrem Verlangen nach Reichtum. Es wird
nicht, wie Rau will, vorausgesetzt, daß das Verhältnis der Menschen
zu den sachlichen Gütern ein unwandelbares sei. Auch darüber wird
man streiten können, ob es als Hypothese des privatwirtschaftlichen
Systems berechtigt sei zu sagen (wie A. Wagner es 1876 formulierte):
"Unvermeidlich muß dabei das Selbstinteresse, das Streben nach Ver-
mögen als eine konstante, selbst ganz gleich bleibende und immer
ganz gleich wirksame, also als eine absolute Größe und Kraft in allen
verkehrenden Personen angesehen werden." Ich glaube, man kommt
so gar zu leicht zu falschen Schlüssen; nur bestimmte Menschen haben
durchschnittlich zu bestimmter Zeit einen bestimmten Erwerbstrieb,
die Großkaufleute einen andern als die Krämer, diese als die Bauern,
Handwerker und Arbeiter; selbst innerhalb derselben Klasse bestehen
große Unterschiede; unter den zahlreichen Bankdirektoren, Kaufleuten,
Spekulanten, welche jetzt vor der deutschen Börsenenquetekommission
vernommen wurden, zeigten sich bei unzweifelhafter Übereinstimmung
in gewissen Grundzügen doch erhebliche Abstufungen in dem, was die
verschiedenen Gruppen der Vornehmeren und Feinfühligen und der
Rücksichtslosen als den natürlichen und berechtigten Erwerbstrieb, als
die selbstverständliche Ursache des geschäftlichen Handelns ansahen.
Jede Art und Abstufung des Erwerbstriebes ist so zu erklären als das
Gesamtergebnis bestimmter Gefühle, Sitten und Rechtsgewohnheiten,
die man als Klasseneigenschaft oder als Eigenschaft bestimmter Rassen
und Völker kennen und beschreiben muß. Alle Schlüsse aus dieser
Eigenschaft reichen so weit, als gleiche oder nahezu gleiche und ähn-
liche Menschen nachweisbar sind. Da diese aber in der Regel nach-
weisbar sind, so sind die Schlüsse ganz berechtigt, welche davon ab-
sehen, daß in einzelnen Fällen andere Motive mitspielen, daß kleine
Modifikationen des geschilderten psychologischen Typus vorkommen.
Man kann größere, kompliziertere Erscheinungen meist nur unter Ig-
norierung der Nebenursachen und mitspielenden Nebenbedingungen
untersuchen, muß auf die Hauptursachen sich konzentrieren. --

Wir müssen ferner noch mit einigen Worten auf den Gegensatz
der natürlichen und der psychischen Ursachen des wirtschaftlichen Ge-
schens zurückkommen. Die ersteren wirken mechanisch, die letzteren
nach den Gesetzen psychischer Motivation. Im einen wie im anderen
Falle nehmen wir eine strenge Kausalität an, sonst wäre keine Wis-
senschaft von der Gesellschaft und der Volkswirtschaft denkbar, wie
es keine Erziehung und keinen Fortschritt außerhalb der Annahme
gibt, daß durch bestimmte psychische Faktoren bestimmte Wirkungen
erzielt werden. Die unendliche Kompliziertheit aber alles psychi-
schen Geschehens, das Geheimnis, mit dem uns die Wirksamkeit gro-

freilich nicht vorausgesetzt, wie Mill meint, alle Handlungen aller Men-
schen flössen allein aus ihrem Verlangen nach Reichtum. Es wird
nicht, wie Rau will, vorausgesetzt, daß das Verhältnis der Menschen
zu den sachlichen Gütern ein unwandelbares sei. Auch darüber wird
man streiten können, ob es als Hypothese des privatwirtschaftlichen
Systems berechtigt sei zu sagen (wie A. Wagner es 1876 formulierte):
„Unvermeidlich muß dabei das Selbstinteresse, das Streben nach Ver-
mögen als eine konstante, selbst ganz gleich bleibende und immer
ganz gleich wirksame, also als eine absolute Größe und Kraft in allen
verkehrenden Personen angesehen werden.“ Ich glaube, man kommt
so gar zu leicht zu falschen Schlüssen; nur bestimmte Menschen haben
durchschnittlich zu bestimmter Zeit einen bestimmten Erwerbstrieb,
die Großkaufleute einen andern als die Krämer, diese als die Bauern,
Handwerker und Arbeiter; selbst innerhalb derselben Klasse bestehen
große Unterschiede; unter den zahlreichen Bankdirektoren, Kaufleuten,
Spekulanten, welche jetzt vor der deutschen Börsenenquetekommission
vernommen wurden, zeigten sich bei unzweifelhafter Übereinstimmung
in gewissen Grundzügen doch erhebliche Abstufungen in dem, was die
verschiedenen Gruppen der Vornehmeren und Feinfühligen und der
Rücksichtslosen als den natürlichen und berechtigten Erwerbstrieb, als
die selbstverständliche Ursache des geschäftlichen Handelns ansahen.
Jede Art und Abstufung des Erwerbstriebes ist so zu erklären als das
Gesamtergebnis bestimmter Gefühle, Sitten und Rechtsgewohnheiten,
die man als Klasseneigenschaft oder als Eigenschaft bestimmter Rassen
und Völker kennen und beschreiben muß. Alle Schlüsse aus dieser
Eigenschaft reichen so weit, als gleiche oder nahezu gleiche und ähn-
liche Menschen nachweisbar sind. Da diese aber in der Regel nach-
weisbar sind, so sind die Schlüsse ganz berechtigt, welche davon ab-
sehen, daß in einzelnen Fällen andere Motive mitspielen, daß kleine
Modifikationen des geschilderten psychologischen Typus vorkommen.
Man kann größere, kompliziertere Erscheinungen meist nur unter Ig-
norierung der Nebenursachen und mitspielenden Nebenbedingungen
untersuchen, muß auf die Hauptursachen sich konzentrieren. —

Wir müssen ferner noch mit einigen Worten auf den Gegensatz
der natürlichen und der psychischen Ursachen des wirtschaftlichen Ge-
schens zurückkommen. Die ersteren wirken mechanisch, die letzteren
nach den Gesetzen psychischer Motivation. Im einen wie im anderen
Falle nehmen wir eine strenge Kausalität an, sonst wäre keine Wis-
senschaft von der Gesellschaft und der Volkswirtschaft denkbar, wie
es keine Erziehung und keinen Fortschritt außerhalb der Annahme
gibt, daß durch bestimmte psychische Faktoren bestimmte Wirkungen
erzielt werden. Die unendliche Kompliziertheit aber alles psychi-
schen Geschehens, das Geheimnis, mit dem uns die Wirksamkeit gro-

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[56/0060] freilich nicht vorausgesetzt, wie Mill meint, alle Handlungen aller Men- schen flössen allein aus ihrem Verlangen nach Reichtum. Es wird nicht, wie Rau will, vorausgesetzt, daß das Verhältnis der Menschen zu den sachlichen Gütern ein unwandelbares sei. Auch darüber wird man streiten können, ob es als Hypothese des privatwirtschaftlichen Systems berechtigt sei zu sagen (wie A. Wagner es 1876 formulierte): „Unvermeidlich muß dabei das Selbstinteresse, das Streben nach Ver- mögen als eine konstante, selbst ganz gleich bleibende und immer ganz gleich wirksame, also als eine absolute Größe und Kraft in allen verkehrenden Personen angesehen werden.“ Ich glaube, man kommt so gar zu leicht zu falschen Schlüssen; nur bestimmte Menschen haben durchschnittlich zu bestimmter Zeit einen bestimmten Erwerbstrieb, die Großkaufleute einen andern als die Krämer, diese als die Bauern, Handwerker und Arbeiter; selbst innerhalb derselben Klasse bestehen große Unterschiede; unter den zahlreichen Bankdirektoren, Kaufleuten, Spekulanten, welche jetzt vor der deutschen Börsenenquetekommission vernommen wurden, zeigten sich bei unzweifelhafter Übereinstimmung in gewissen Grundzügen doch erhebliche Abstufungen in dem, was die verschiedenen Gruppen der Vornehmeren und Feinfühligen und der Rücksichtslosen als den natürlichen und berechtigten Erwerbstrieb, als die selbstverständliche Ursache des geschäftlichen Handelns ansahen. Jede Art und Abstufung des Erwerbstriebes ist so zu erklären als das Gesamtergebnis bestimmter Gefühle, Sitten und Rechtsgewohnheiten, die man als Klasseneigenschaft oder als Eigenschaft bestimmter Rassen und Völker kennen und beschreiben muß. Alle Schlüsse aus dieser Eigenschaft reichen so weit, als gleiche oder nahezu gleiche und ähn- liche Menschen nachweisbar sind. Da diese aber in der Regel nach- weisbar sind, so sind die Schlüsse ganz berechtigt, welche davon ab- sehen, daß in einzelnen Fällen andere Motive mitspielen, daß kleine Modifikationen des geschilderten psychologischen Typus vorkommen. Man kann größere, kompliziertere Erscheinungen meist nur unter Ig- norierung der Nebenursachen und mitspielenden Nebenbedingungen untersuchen, muß auf die Hauptursachen sich konzentrieren. — Wir müssen ferner noch mit einigen Worten auf den Gegensatz der natürlichen und der psychischen Ursachen des wirtschaftlichen Ge- schens zurückkommen. Die ersteren wirken mechanisch, die letzteren nach den Gesetzen psychischer Motivation. Im einen wie im anderen Falle nehmen wir eine strenge Kausalität an, sonst wäre keine Wis- senschaft von der Gesellschaft und der Volkswirtschaft denkbar, wie es keine Erziehung und keinen Fortschritt außerhalb der Annahme gibt, daß durch bestimmte psychische Faktoren bestimmte Wirkungen erzielt werden. Die unendliche Kompliziertheit aber alles psychi- schen Geschehens, das Geheimnis, mit dem uns die Wirksamkeit gro-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/60>, abgerufen am 28.04.2024.