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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Klasse rechnen, aber zugeben, daß auf der Grenze zwischen den
zwei nächsten Typen stets Unsicherheit bleibe. --

Alle heutige strenge Wissenschaft geht davon aus, daß die Begriffe
Ergebnisse unserer Vorstellungen und ihrer Ordnung, daß sie nichts
Reales, keine eigenen selbständigen Wesen seien, wie die Alten es sich
dachten, wie im Mittelalter die Realisten im Gegensatz zu den Nomina-
listen es annahmen und auch heute noch einzelne Ideologen an Real-
definitionen (statt der Nominaldefinitionen) glauben und mit einer
solchen sich einbilden, das innerste Wesen der Sache durchschaut zu
haben. Es ist der Irrtum, der wähnt, mit dem rechten Begriffe des
Geistes die Psychologie, mit dem recht wirtschaftlichen Kern-
begriffe die Nationalökonomie erfaßt zu haben, aus diesem Begriffe
alles Weitere ableiten zu können; Lorenz v. Stein und andere Schüler
Hegels glaubten so verfahren zu können. Die mit reicher anschaulicher
Kraft der Phantasie Denkenden können freilich scheinbar aus solchen
Grund- und Kernbegriffen viel ableiten; aber es ist in Wahrheit nicht
der Begriff, sondern die Kraft ihrer anschaulichen Phantasie, die tätig
ist. Die abstraktesten obersten Begriffe, sagt Herbart, sind die leersten,
man wird richtiger sagen, die vieldeutigsten, die, je komplizierter eine
Wissenschaft ist, desto weniger in allgemeingültiger Weise fixiert wer-
den können9.

Wir kommen damit noch zu einem Worte der Würdigung aller Be-
griffsbildung. Wer sich erinnert, wie Jehring die Begriffsjurisprudenz
verhöhnt hat, oder wer sich die Frage vorlegt, ob in der medizinischen
Wissenschaft große Leistungen davon abhängen, ob der Betreffende
den Begriff der Krankheit richtig definiert habe, der hat sofort eine
klare Empfindung dafür, welch verschiedene Wertung der Begriffs-
bildung vorkomme und, daß diese Verschiedenheit ihre Ursachen haben
müsse. Ich glaube, man wird nun einfach sagen können: je einfachere
Gegenstände eine Wissenschaft behandelt, je weiter sie bereits in ihren
Resultaten gekommen ist, desto vollendetere Begriffe hat sie, desto
leichter kann sie ihre Gesetze und obersten Wahrheiten in ihre Be-
griffe und Definitionen aufnehmen und daraus alles Weitere ableiten.
Je komplizierter der Gegenstand einer Wissenschaft aber wird, desto
weiter ist sie von diesem Ideal entfernt. Sie bedarf natürlich stets der
Begriffe und der Klassifikation, kann in dem Gebiete der realen Einzel-
heiten da auch zu einer gewissen Übereinstimmung kommen und muß
dann ihre Wahrheiten mit ihren Begriffen in Verbindung bringen; je
allgemeiner und abstrakter aber die von ihr angewandten Begriffe wer-
den, desto weniger lassen sich von ihnen reale, genau begrenzte Fol-
gen und Wirkungen aussagen, desto mehr hat die Definition nur den
Sinn, gewisse Gruppen von Erscheinungen allgemein zu charakteri-
sieren und auszusondern, nicht den, alle wesentlichen Wahrheiten in

Klasse rechnen, aber zugeben, daß auf der Grenze zwischen den
zwei nächsten Typen stets Unsicherheit bleibe. —

Alle heutige strenge Wissenschaft geht davon aus, daß die Begriffe
Ergebnisse unserer Vorstellungen und ihrer Ordnung, daß sie nichts
Reales, keine eigenen selbständigen Wesen séien, wie die Alten es sich
dachten, wie im Mittelalter die Realisten im Gegensatz zu den Nomina-
listen es annahmen und auch heute noch einzelne Ideologen an Real-
definitionen (statt der Nominaldefinitionen) glauben und mit einer
solchen sich einbilden, das innerste Wesen der Sache durchschaut zu
haben. Es ist der Irrtum, der wähnt, mit dem rechten Begriffe des
Geistes die Psychologie, mit dem recht wirtschaftlichen Kern-
begriffe die Nationalökonomie erfaßt zu haben, aus diesem Begriffe
alles Weitere ableiten zu können; Lorenz v. Stein und andere Schüler
Hegels glaubten so verfahren zu können. Die mit reicher anschaulicher
Kraft der Phantasie Denkenden können freilich scheinbar aus solchen
Grund- und Kernbegriffen viel ableiten; aber es ist in Wahrheit nicht
der Begriff, sondern die Kraft ihrer anschaulichen Phantasie, die tätig
ist. Die abstraktesten obersten Begriffe, sagt Herbart, sind die leersten,
man wird richtiger sagen, die vieldeutigsten, die, je komplizierter eine
Wissenschaft ist, desto weniger in allgemeingültiger Weise fixiert wer-
den können9.

Wir kommen damit noch zu einem Worte der Würdigung aller Be-
griffsbildung. Wer sich erinnert, wie Jehring die Begriffsjurisprudenz
verhöhnt hat, oder wer sich die Frage vorlegt, ob in der medizinischen
Wissenschaft große Leistungen davon abhängen, ob der Betreffende
den Begriff der Krankheit richtig definiert habe, der hat sofort eine
klare Empfindung dafür, welch verschiedene Wertung der Begriffs-
bildung vorkomme und, daß diese Verschiedenheit ihre Ursachen haben
müsse. Ich glaube, man wird nun einfach sagen können: je einfachere
Gegenstände eine Wissenschaft behandelt, je weiter sie bereits in ihren
Resultaten gekommen ist, desto vollendetere Begriffe hat sie, desto
leichter kann sie ihre Gesetze und obersten Wahrheiten in ihre Be-
griffe und Definitionen aufnehmen und daraus alles Weitere ableiten.
Je komplizierter der Gegenstand einer Wissenschaft aber wird, desto
weiter ist sie von diesem Ideal entfernt. Sie bedarf natürlich stets der
Begriffe und der Klassifikation, kann in dem Gebiete der realen Einzel-
heiten da auch zu einer gewissen Übereinstimmung kommen und muß
dann ihre Wahrheiten mit ihren Begriffen in Verbindung bringen; je
allgemeiner und abstrakter aber die von ihr angewandten Begriffe wer-
den, desto weniger lassen sich von ihnen reale, genau begrenzte Fol-
gen und Wirkungen aussagen, desto mehr hat die Definition nur den
Sinn, gewisse Gruppen von Erscheinungen allgemein zu charakteri-
sieren und auszusondern, nicht den, alle wesentlichen Wahrheiten in

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[48/0052] Klasse rechnen, aber zugeben, daß auf der Grenze zwischen den zwei nächsten Typen stets Unsicherheit bleibe. — Alle heutige strenge Wissenschaft geht davon aus, daß die Begriffe Ergebnisse unserer Vorstellungen und ihrer Ordnung, daß sie nichts Reales, keine eigenen selbständigen Wesen séien, wie die Alten es sich dachten, wie im Mittelalter die Realisten im Gegensatz zu den Nomina- listen es annahmen und auch heute noch einzelne Ideologen an Real- definitionen (statt der Nominaldefinitionen) glauben und mit einer solchen sich einbilden, das innerste Wesen der Sache durchschaut zu haben. Es ist der Irrtum, der wähnt, mit dem rechten Begriffe des Geistes die Psychologie, mit dem recht wirtschaftlichen Kern- begriffe die Nationalökonomie erfaßt zu haben, aus diesem Begriffe alles Weitere ableiten zu können; Lorenz v. Stein und andere Schüler Hegels glaubten so verfahren zu können. Die mit reicher anschaulicher Kraft der Phantasie Denkenden können freilich scheinbar aus solchen Grund- und Kernbegriffen viel ableiten; aber es ist in Wahrheit nicht der Begriff, sondern die Kraft ihrer anschaulichen Phantasie, die tätig ist. Die abstraktesten obersten Begriffe, sagt Herbart, sind die leersten, man wird richtiger sagen, die vieldeutigsten, die, je komplizierter eine Wissenschaft ist, desto weniger in allgemeingültiger Weise fixiert wer- den können9. Wir kommen damit noch zu einem Worte der Würdigung aller Be- griffsbildung. Wer sich erinnert, wie Jehring die Begriffsjurisprudenz verhöhnt hat, oder wer sich die Frage vorlegt, ob in der medizinischen Wissenschaft große Leistungen davon abhängen, ob der Betreffende den Begriff der Krankheit richtig definiert habe, der hat sofort eine klare Empfindung dafür, welch verschiedene Wertung der Begriffs- bildung vorkomme und, daß diese Verschiedenheit ihre Ursachen haben müsse. Ich glaube, man wird nun einfach sagen können: je einfachere Gegenstände eine Wissenschaft behandelt, je weiter sie bereits in ihren Resultaten gekommen ist, desto vollendetere Begriffe hat sie, desto leichter kann sie ihre Gesetze und obersten Wahrheiten in ihre Be- griffe und Definitionen aufnehmen und daraus alles Weitere ableiten. Je komplizierter der Gegenstand einer Wissenschaft aber wird, desto weiter ist sie von diesem Ideal entfernt. Sie bedarf natürlich stets der Begriffe und der Klassifikation, kann in dem Gebiete der realen Einzel- heiten da auch zu einer gewissen Übereinstimmung kommen und muß dann ihre Wahrheiten mit ihren Begriffen in Verbindung bringen; je allgemeiner und abstrakter aber die von ihr angewandten Begriffe wer- den, desto weniger lassen sich von ihnen reale, genau begrenzte Fol- gen und Wirkungen aussagen, desto mehr hat die Definition nur den Sinn, gewisse Gruppen von Erscheinungen allgemein zu charakteri- sieren und auszusondern, nicht den, alle wesentlichen Wahrheiten in

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/52>, abgerufen am 27.04.2024.