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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Theorien aufstellen, in eben dem Maße, als diese praktische Politik
treiben, praktische Ideale des Handelns aufstellen, gehen sie von einem
Glauben, einer individuellen Weltanschauung aus und sind ihre Lehren,
so viel wirkliche Wissenschaft darin stecken mag, nicht fähig, alle
Menschen von ihrer Wahrheit gleichmäßig zu überzeugen. Das gilt von
den staatssozialistischen Idealen A. Wagners ebenso, wie von den ge-
werkvereinlichen Brentanos, von den maßvollen Reformplänen des
Vereins für Sozialpolitik, wie von den radikalen der englischen Fa-
bier.

Und nicht bloß die Ideale der Zukunft und die Systeme unterliegen
dieser Schranke, auch alle Urteile über die großen historischen Er-
scheinungen, über Staatenbildung und Staatenuntergang, über soziale
Revolutionen, über wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Fort-
schritt oder Rückschritt stehen, so sehr sie daneben auf der genauesten
möglichen Kenntnis des einzelnen beruhen mögen, auf demselben
Boden, sind gefällt mit Hilfe von Deduktionen aus Prämissen teleo-
logischer Art, aus Welt- und Geschichtsbildern, die in verschiedener
Weise je nach Weltanschauung und Persönlichkeit sich bilden. Sie ent-
halten nie mehr als Annäherungswerte, als vorläufige Versuche; sie
enthalten in sich nicht dasjenige Kriterium der Wahrheit, das die voll-
endete Wissenschaft in Anspruch nehmen muß, daß jeder Untersuchende
zu demselben Ergebnis kommen müsse.

Die strengere Wissenschaft strebt nach diesem großen Ziele, sie sucht
unumstößliche Wahrheiten zu erhalten; sie hat es in den Gebieten
einfacherer Verwickelung der Erscheinungen erreicht. Sie kann das,
je mehr sie sich zunächst auf die Untersuchung des einzelnen be-
schränkt; je mehr sie das tut, desto mehr muß sie aber auch verzich-
ten Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren. Denn dieses geht immer
nur aus dem Zusammenhange des Ganzen hervor. Wenn daher die
strengere Wissenschaft auch auf unserem Gebiete die Resignation zu
fordern anfängt, man solle zunächst nur erklären, wie die Dinge ge-
worden seien, so gibt sie darum die Hoffnung nicht auf, einer spä-
teren besseren Ordnung des menschlichen Lebens zu dienen, einer
höheren Art der Pflichterfüllung und des Sollens die Wege zu bahnen;
sie will nur vorläufig sich im Sinne einer berechtigten Arbeits-
teilung auf das Erkennen beschränken, zumal im Gebiete der Staats-
und Sozialwissenschaft stets zu beobachten war, daß hier noch mehr
als sonst wo die Hoffnung, durch bestimmte Untersuchungen irgend
welcher subjektiven Auffassung des Sollens eine Stütze zu bieten, im-
mer wieder die Objektivität des wissenschaftlichen Verfahrens getrübt
hat. Man kann deshalb prinzipiell zugeben, daß das letzte Ziel aller
Erkenntnis ein praktisches sei, daß das Wollen immer vor dem In-
tellekt da ist, ihn regiert und sein Herrscher bleibt; daß jeder Fort-

Theorien aufstellen, in eben dem Maße, als diese praktische Politik
treiben, praktische Ideale des Handelns aufstellen, gehen sie von einem
Glauben, einer individuellen Weltanschauung aus und sind ihre Lehren,
so viel wirkliche Wissenschaft darin stecken mag, nicht fähig, alle
Menschen von ihrer Wahrheit gleichmäßig zu überzeugen. Das gilt von
den staatssozialistischen Idealen A. Wagners ebenso, wie von den ge-
werkvereinlichen Brentanos, von den maßvollen Reformplänen des
Vereins für Sozialpolitik, wie von den radikalen der englischen Fa-
bier.

Und nicht bloß die Ideale der Zukunft und die Systeme unterliegen
dieser Schranke, auch alle Urteile über die großen historischen Er-
scheinungen, über Staatenbildung und Staatenuntergang, über soziale
Revolutionen, über wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Fort-
schritt oder Rückschritt stehen, so sehr sie daneben auf der genauesten
möglichen Kenntnis des einzelnen beruhen mögen, auf demselben
Boden, sind gefällt mit Hilfe von Deduktionen aus Prämissen teleo-
logischer Art, aus Welt- und Geschichtsbildern, die in verschiedener
Weise je nach Weltanschauung und Persönlichkeit sich bilden. Sie ent-
halten nie mehr als Annäherungswerte, als vorläufige Versuche; sie
enthalten in sich nicht dasjenige Kriterium der Wahrheit, das die voll-
endete Wissenschaft in Anspruch nehmen muß, daß jeder Untersuchende
zu demselben Ergebnis kommen müsse.

Die strengere Wissenschaft strebt nach diesem großen Ziele, sie sucht
unumstößliche Wahrheiten zu erhalten; sie hat es in den Gebieten
einfacherer Verwickelung der Erscheinungen erreicht. Sie kann das,
je mehr sie sich zunächst auf die Untersuchung des einzelnen be-
schränkt; je mehr sie das tut, desto mehr muß sie aber auch verzich-
ten Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren. Denn dieses geht immer
nur aus dem Zusammenhange des Ganzen hervor. Wenn daher die
strengere Wissenschaft auch auf unserem Gebiete die Resignation zu
fordern anfängt, man solle zunächst nur erklären, wie die Dinge ge-
worden seien, so gibt sie darum die Hoffnung nicht auf, einer spä-
teren besseren Ordnung des menschlichen Lebens zu dienen, einer
höheren Art der Pflichterfüllung und des Sollens die Wege zu bahnen;
sie will nur vorläufig sich im Sinne einer berechtigten Arbeits-
teilung auf das Erkennen beschränken, zumal im Gebiete der Staats-
und Sozialwissenschaft stets zu beobachten war, daß hier noch mehr
als sonst wo die Hoffnung, durch bestimmte Untersuchungen irgend
welcher subjektiven Auffassung des Sollens eine Stütze zu bieten, im-
mer wieder die Objektivität des wissenschaftlichen Verfahrens getrübt
hat. Man kann deshalb prinzipiell zugeben, daß das letzte Ziel aller
Erkenntnis ein praktisches sei, daß das Wollen immer vor dem In-
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[29/0033] Theorien aufstellen, in eben dem Maße, als diese praktische Politik treiben, praktische Ideale des Handelns aufstellen, gehen sie von einem Glauben, einer individuellen Weltanschauung aus und sind ihre Lehren, so viel wirkliche Wissenschaft darin stecken mag, nicht fähig, alle Menschen von ihrer Wahrheit gleichmäßig zu überzeugen. Das gilt von den staatssozialistischen Idealen A. Wagners ebenso, wie von den ge- werkvereinlichen Brentanos, von den maßvollen Reformplänen des Vereins für Sozialpolitik, wie von den radikalen der englischen Fa- bier. Und nicht bloß die Ideale der Zukunft und die Systeme unterliegen dieser Schranke, auch alle Urteile über die großen historischen Er- scheinungen, über Staatenbildung und Staatenuntergang, über soziale Revolutionen, über wirtschaftlichen und sonstigen kulturellen Fort- schritt oder Rückschritt stehen, so sehr sie daneben auf der genauesten möglichen Kenntnis des einzelnen beruhen mögen, auf demselben Boden, sind gefällt mit Hilfe von Deduktionen aus Prämissen teleo- logischer Art, aus Welt- und Geschichtsbildern, die in verschiedener Weise je nach Weltanschauung und Persönlichkeit sich bilden. Sie ent- halten nie mehr als Annäherungswerte, als vorläufige Versuche; sie enthalten in sich nicht dasjenige Kriterium der Wahrheit, das die voll- endete Wissenschaft in Anspruch nehmen muß, daß jeder Untersuchende zu demselben Ergebnis kommen müsse. Die strengere Wissenschaft strebt nach diesem großen Ziele, sie sucht unumstößliche Wahrheiten zu erhalten; sie hat es in den Gebieten einfacherer Verwickelung der Erscheinungen erreicht. Sie kann das, je mehr sie sich zunächst auf die Untersuchung des einzelnen be- schränkt; je mehr sie das tut, desto mehr muß sie aber auch verzich- ten Ideale aufzustellen, ein Sollen zu lehren. Denn dieses geht immer nur aus dem Zusammenhange des Ganzen hervor. Wenn daher die strengere Wissenschaft auch auf unserem Gebiete die Resignation zu fordern anfängt, man solle zunächst nur erklären, wie die Dinge ge- worden seien, so gibt sie darum die Hoffnung nicht auf, einer spä- teren besseren Ordnung des menschlichen Lebens zu dienen, einer höheren Art der Pflichterfüllung und des Sollens die Wege zu bahnen; sie will nur vorläufig sich im Sinne einer berechtigten Arbeits- teilung auf das Erkennen beschränken, zumal im Gebiete der Staats- und Sozialwissenschaft stets zu beobachten war, daß hier noch mehr als sonst wo die Hoffnung, durch bestimmte Untersuchungen irgend welcher subjektiven Auffassung des Sollens eine Stütze zu bieten, im- mer wieder die Objektivität des wissenschaftlichen Verfahrens getrübt hat. Man kann deshalb prinzipiell zugeben, daß das letzte Ziel aller Erkenntnis ein praktisches sei, daß das Wollen immer vor dem In- tellekt da ist, ihn regiert und sein Herrscher bleibt; daß jeder Fort-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/33>, abgerufen am 28.03.2024.