Die großen Kleiderfabriken und die kleinen Schneider.
Wenn in dieser Weise die Kleiderfabrikation sich konzentrirt, so muß es Wunder nehmen, daß im Ganzen in Preußen auf 100 Meister erst 64 Gehülfen, auch in Berlin nur 138 kommen. Selbst wenn man berück- sichtigt, daß manche als Meister gezählte für Magazine und größere Meister arbeiten, so bleibt das Resultat überraschend. Es hat ähnliche Ursachen, wie die große Zahl kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent- wicklung der großen Geschäfte und Magazine steht die um so größere Noth der kleinen Meister gegenüber. Der Versuch, ein eigenes Geschäft zu beginnen, kann fast ohne Kapital gemacht werden, der Zudrang ist bedeutend. Selbst auf dem Lande ist die Zahl der Meister sehr groß; 1858 kamen in Preußen auf 30 229 städtische, 40 849 ländliche Meister; schon 18491 kam auf dem platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131, im Regierungsbezirk Münster auf 133, im Regierungs- bezirk Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslin auf 220 Einwohner ein Schneider (Meister und Ge- hülfen zusammen). Die meisten dieser kleinen Schneider leben in den ärmlichsten Verhältnissen, viele nur als Flickschneider und als Hausarbeiter in den Häusern der Kunden. Auch Viebahn2 nimmt an, daß zwar das Durchschnittseinkommen, das ein großstädtisches Schneidergeschäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage, daß dasselbe aber in kleinen Städten von 400 auf 200 Thaler sinke, auf dem Lande wohl noch tiefer
1 Tabellen und amtliche Nachrichten V, 837.
2III, 676.
Die großen Kleiderfabriken und die kleinen Schneider.
Wenn in dieſer Weiſe die Kleiderfabrikation ſich konzentrirt, ſo muß es Wunder nehmen, daß im Ganzen in Preußen auf 100 Meiſter erſt 64 Gehülfen, auch in Berlin nur 138 kommen. Selbſt wenn man berück- ſichtigt, daß manche als Meiſter gezählte für Magazine und größere Meiſter arbeiten, ſo bleibt das Reſultat überraſchend. Es hat ähnliche Urſachen, wie die große Zahl kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent- wicklung der großen Geſchäfte und Magazine ſteht die um ſo größere Noth der kleinen Meiſter gegenüber. Der Verſuch, ein eigenes Geſchäft zu beginnen, kann faſt ohne Kapital gemacht werden, der Zudrang iſt bedeutend. Selbſt auf dem Lande iſt die Zahl der Meiſter ſehr groß; 1858 kamen in Preußen auf 30 229 ſtädtiſche, 40 849 ländliche Meiſter; ſchon 18491 kam auf dem platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131, im Regierungsbezirk Münſter auf 133, im Regierungs- bezirk Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslin auf 220 Einwohner ein Schneider (Meiſter und Ge- hülfen zuſammen). Die meiſten dieſer kleinen Schneider leben in den ärmlichſten Verhältniſſen, viele nur als Flickſchneider und als Hausarbeiter in den Häuſern der Kunden. Auch Viebahn2 nimmt an, daß zwar das Durchſchnittseinkommen, das ein großſtädtiſches Schneidergeſchäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage, daß daſſelbe aber in kleinen Städten von 400 auf 200 Thaler ſinke, auf dem Lande wohl noch tiefer
1 Tabellen und amtliche Nachrichten V, 837.
2III, 676.
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Die großen Kleiderfabriken und die kleinen Schneider.
Wenn in dieſer Weiſe die Kleiderfabrikation ſich
konzentrirt, ſo muß es Wunder nehmen, daß im Ganzen
in Preußen auf 100 Meiſter erſt 64 Gehülfen, auch
in Berlin nur 138 kommen. Selbſt wenn man berück-
ſichtigt, daß manche als Meiſter gezählte für Magazine
und größere Meiſter arbeiten, ſo bleibt das Reſultat
überraſchend. Es hat ähnliche Urſachen, wie die große
Zahl kleiner Schuhmacher. Dem Glanz und der Ent-
wicklung der großen Geſchäfte und Magazine ſteht die
um ſo größere Noth der kleinen Meiſter gegenüber. Der
Verſuch, ein eigenes Geſchäft zu beginnen, kann faſt
ohne Kapital gemacht werden, der Zudrang iſt bedeutend.
Selbſt auf dem Lande iſt die Zahl der Meiſter ſehr
groß; 1858 kamen in Preußen auf 30 229 ſtädtiſche,
40 849 ländliche Meiſter; ſchon 1849 1 kam auf dem
platten Lande im Regierungsbezirk Arnsberg auf 131,
im Regierungsbezirk Münſter auf 133, im Regierungs-
bezirk Magdeburg auf 144, im Regierungsbezirk Köslin
auf 220 Einwohner ein Schneider (Meiſter und Ge-
hülfen zuſammen). Die meiſten dieſer kleinen Schneider
leben in den ärmlichſten Verhältniſſen, viele nur als
Flickſchneider und als Hausarbeiter in den Häuſern
der Kunden. Auch Viebahn 2 nimmt an, daß zwar
das Durchſchnittseinkommen, das ein großſtädtiſches
Schneidergeſchäft gewähre, etwa 400 Thaler betrage,
daß daſſelbe aber in kleinen Städten von 400 auf
200 Thaler ſinke, auf dem Lande wohl noch tiefer
1 Tabellen und amtliche Nachrichten V, 837.
2 III, 676.
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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/669>, abgerufen am 23.11.2024.
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