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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Die Zunahme der Schneider.
den ist. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die
Zunahme des Personalbestandes ließe sich auch darauf
zurückführen, daß jetzt gekaufte oder bestellte Kleider in
vielen Kreisen getragen werden, welche früher Kleider
trugen, die von der Familie selbst gemacht waren. Die
Poesie der Nationaltracht, der besonderen ländlichen Be-
kleidung verschwindet; selbst der deutsche Bauer fängt
an, fertige städtische Kleider zu kaufen. Auch Frauen-
kleider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga-
zinen gekauft, wenn gleich noch entfernt nicht so sehr wie
die Männerkleider. Doch glaube ich kaum, daß die Zahl
der Nätherinnen, welche im Hause der Kunden Frauen-
kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat.

In der Organisation des Geschäfts sind große
Aenderungen eingetreten, welche aber nicht aus der
obigen Tabelle zu ersehen sind. Ob unsere großen
Städte schon Geschäfte haben, wie die Pariser, welche
nur Modelle anfertigen, ist mir zweifelhaft, 1 wohl aber
hat sich in den größern Städten die Arbeitstheilung
vollzogen,2 welche in Paris mit den Namen "Tailleurs

1 Oestr. Ausstellungsbericht Bd. IV, 230: "da gibt es
Häuser, welche nur Modelle aufertigen, welche Zeichner, Maler,
Literaten und Sachverständige aller Art beschäftigen, mit den
Fabriken in regem Verkehr stehen, die Modefarbe bestimmen
oder wenigstens alle Stoffe dieser Art für eine gewisse Zeit,
gewöhnlich drei Monate, aufkaufen. In diesen Häusern kaufen
die ersten Schneider und Konfektionsfabrikanten die Modelle und
propagiren jene, welche Sukzeß haben."
2 Vergl. die ausgezeichnete Untersuchung von Laspeyres,
die Gruppirung der Industrie in den großen Städten, Berliner
Gemeindekalender III, 65 -- 67.

Die Zunahme der Schneider.
den iſt. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die
Zunahme des Perſonalbeſtandes ließe ſich auch darauf
zurückführen, daß jetzt gekaufte oder beſtellte Kleider in
vielen Kreiſen getragen werden, welche früher Kleider
trugen, die von der Familie ſelbſt gemacht waren. Die
Poeſie der Nationaltracht, der beſonderen ländlichen Be-
kleidung verſchwindet; ſelbſt der deutſche Bauer fängt
an, fertige ſtädtiſche Kleider zu kaufen. Auch Frauen-
kleider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga-
zinen gekauft, wenn gleich noch entfernt nicht ſo ſehr wie
die Männerkleider. Doch glaube ich kaum, daß die Zahl
der Nätherinnen, welche im Hauſe der Kunden Frauen-
kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat.

In der Organiſation des Geſchäfts ſind große
Aenderungen eingetreten, welche aber nicht aus der
obigen Tabelle zu erſehen ſind. Ob unſere großen
Städte ſchon Geſchäfte haben, wie die Pariſer, welche
nur Modelle anfertigen, iſt mir zweifelhaft, 1 wohl aber
hat ſich in den größern Städten die Arbeitstheilung
vollzogen,2 welche in Paris mit den Namen „Tailleurs

1 Oeſtr. Ausſtellungsbericht Bd. IV, 230: „da gibt es
Häuſer, welche nur Modelle aufertigen, welche Zeichner, Maler,
Literaten und Sachverſtändige aller Art beſchäftigen, mit den
Fabriken in regem Verkehr ſtehen, die Modefarbe beſtimmen
oder wenigſtens alle Stoffe dieſer Art für eine gewiſſe Zeit,
gewöhnlich drei Monate, aufkaufen. In dieſen Häuſern kaufen
die erſten Schneider und Konfektionsfabrikanten die Modelle und
propagiren jene, welche Sukzeß haben.“
2 Vergl. die ausgezeichnete Unterſuchung von Laspeyres,
die Gruppirung der Induſtrie in den großen Städten, Berliner
Gemeindekalender III, 65 — 67.
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[645/0667] Die Zunahme der Schneider. den iſt. Freilich bleiben daneben manche Zweifel: Die Zunahme des Perſonalbeſtandes ließe ſich auch darauf zurückführen, daß jetzt gekaufte oder beſtellte Kleider in vielen Kreiſen getragen werden, welche früher Kleider trugen, die von der Familie ſelbſt gemacht waren. Die Poeſie der Nationaltracht, der beſonderen ländlichen Be- kleidung verſchwindet; ſelbſt der deutſche Bauer fängt an, fertige ſtädtiſche Kleider zu kaufen. Auch Frauen- kleider werden gegenwärtig vielfach fertig in den Maga- zinen gekauft, wenn gleich noch entfernt nicht ſo ſehr wie die Männerkleider. Doch glaube ich kaum, daß die Zahl der Nätherinnen, welche im Hauſe der Kunden Frauen- kleider fertigen, gegen früher abgenommen hat. In der Organiſation des Geſchäfts ſind große Aenderungen eingetreten, welche aber nicht aus der obigen Tabelle zu erſehen ſind. Ob unſere großen Städte ſchon Geſchäfte haben, wie die Pariſer, welche nur Modelle anfertigen, iſt mir zweifelhaft, 1 wohl aber hat ſich in den größern Städten die Arbeitstheilung vollzogen, 2 welche in Paris mit den Namen „Tailleurs 1 Oeſtr. Ausſtellungsbericht Bd. IV, 230: „da gibt es Häuſer, welche nur Modelle aufertigen, welche Zeichner, Maler, Literaten und Sachverſtändige aller Art beſchäftigen, mit den Fabriken in regem Verkehr ſtehen, die Modefarbe beſtimmen oder wenigſtens alle Stoffe dieſer Art für eine gewiſſe Zeit, gewöhnlich drei Monate, aufkaufen. In dieſen Häuſern kaufen die erſten Schneider und Konfektionsfabrikanten die Modelle und propagiren jene, welche Sukzeß haben.“ 2 Vergl. die ausgezeichnete Unterſuchung von Laspeyres, die Gruppirung der Induſtrie in den großen Städten, Berliner Gemeindekalender III, 65 — 67.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/667>, abgerufen am 23.11.2024.