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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Die Spinnmaschine und ihre Folgen.

Der Umschwung, der sich zuerst in England und
speziell in der Baumwollindustrie vollzogen hatte, mußte
sich nach und nach auch anderwärts geltend machen.
England konnte durch ihn billiger und besser produziren.
Die Konkurrenz mit England wurde zur Existenzfrage
für alle kontinentale Gewebeindustrie. Es fragte sich,
welche Stellung, welchen Umfang die einzelne Industrie,
zunächst hier die einzelne Art der Spinnerei hatte.

Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in
Deutschland noch wenig getragen. Der Stoff war schon
viel zu theuer; kostete doch der Centner hundert und
mehr Thaler. Die am meisten getragenen Gewebearten,
die Zitze und Nankings, wurden eingeführt. Gegen
Ende des Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei
zwar wesentlich zugenommen; immer hatte man zu
Lichtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu
den Stoffen, welche die Zunft der Züchner webte, war
es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptsache hatte
es doch gereicht, die Baumwolle von Frauen und Kindern
um Lohn verspinnen zu lassen. Eine professionsmäßige
Spinnerbevölkerung gab es wenigstens nicht in allzu-
großem Umfange. Als sich daher 1738 -- 79 die
mechanische Baumwollspinnerei in England entwickelte,
als von 1783 an auch in Deutschland die Maschinen-
spinnerei begann, verdrängte sie langsam die Beschäftigung
einiger alten Frauen, aber sie traf nicht eine ganze
Bevölkerungsklasse in ihrem Haupterwerbszweig. Und als
vollends das Sinken der Baumwollpreise und der Twiste
im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner rohe
Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin

Die Spinnmaſchine und ihre Folgen.

Der Umſchwung, der ſich zuerſt in England und
ſpeziell in der Baumwollinduſtrie vollzogen hatte, mußte
ſich nach und nach auch anderwärts geltend machen.
England konnte durch ihn billiger und beſſer produziren.
Die Konkurrenz mit England wurde zur Exiſtenzfrage
für alle kontinentale Gewebeinduſtrie. Es fragte ſich,
welche Stellung, welchen Umfang die einzelne Induſtrie,
zunächſt hier die einzelne Art der Spinnerei hatte.

Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in
Deutſchland noch wenig getragen. Der Stoff war ſchon
viel zu theuer; koſtete doch der Centner hundert und
mehr Thaler. Die am meiſten getragenen Gewebearten,
die Zitze und Nankings, wurden eingeführt. Gegen
Ende des Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei
zwar weſentlich zugenommen; immer hatte man zu
Lichtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu
den Stoffen, welche die Zunft der Züchner webte, war
es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptſache hatte
es doch gereicht, die Baumwolle von Frauen und Kindern
um Lohn verſpinnen zu laſſen. Eine profeſſionsmäßige
Spinnerbevölkerung gab es wenigſtens nicht in allzu-
großem Umfange. Als ſich daher 1738 — 79 die
mechaniſche Baumwollſpinnerei in England entwickelte,
als von 1783 an auch in Deutſchland die Maſchinen-
ſpinnerei begann, verdrängte ſie langſam die Beſchäftigung
einiger alten Frauen, aber ſie traf nicht eine ganze
Bevölkerungsklaſſe in ihrem Haupterwerbszweig. Und als
vollends das Sinken der Baumwollpreiſe und der Twiſte
im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner rohe
Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin

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[453/0475] Die Spinnmaſchine und ihre Folgen. Der Umſchwung, der ſich zuerſt in England und ſpeziell in der Baumwollinduſtrie vollzogen hatte, mußte ſich nach und nach auch anderwärts geltend machen. England konnte durch ihn billiger und beſſer produziren. Die Konkurrenz mit England wurde zur Exiſtenzfrage für alle kontinentale Gewebeinduſtrie. Es fragte ſich, welche Stellung, welchen Umfang die einzelne Induſtrie, zunächſt hier die einzelne Art der Spinnerei hatte. Baumwolle wurde im vorigen Jahrhundert in Deutſchland noch wenig getragen. Der Stoff war ſchon viel zu theuer; koſtete doch der Centner hundert und mehr Thaler. Die am meiſten getragenen Gewebearten, die Zitze und Nankings, wurden eingeführt. Gegen Ende des Jahrhunderts hatte die Baumwollweberei zwar weſentlich zugenommen; immer hatte man zu Lichtern und Lampendocht Baumwollgarn gebraucht; zu den Stoffen, welche die Zunft der Züchner webte, war es ebenfalls nothwendig. Aber in der Hauptſache hatte es doch gereicht, die Baumwolle von Frauen und Kindern um Lohn verſpinnen zu laſſen. Eine profeſſionsmäßige Spinnerbevölkerung gab es wenigſtens nicht in allzu- großem Umfange. Als ſich daher 1738 — 79 die mechaniſche Baumwollſpinnerei in England entwickelte, als von 1783 an auch in Deutſchland die Maſchinen- ſpinnerei begann, verdrängte ſie langſam die Beſchäftigung einiger alten Frauen, aber ſie traf nicht eine ganze Bevölkerungsklaſſe in ihrem Haupterwerbszweig. Und als vollends das Sinken der Baumwollpreiſe und der Twiſte im 19. Jahrhundert eintrat, als der Centner rohe Baumwolle, der 1817 noch 70 Thaler in Berlin

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/475>, abgerufen am 22.11.2024.