kehrsmittelpunkte noch begünstigt. Die Klagen aus dem vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landstädte sind mehr auf die allgemeinen Ursachen gewerblichen Still- stands zurückzuführen; theilweise sind sie nur Ausdrücke egoistischer Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande zulassen; theilweise beruhen sie auf einem Irrthum. Sie beziehen sich auf Orte, die niemals größer waren, Orte, welche erst in der Zeit des kleinstaatlichen Despotismus -- der Märkte und der unbeschränkten Aufnahme von Gewerbtreibenden wegen -- die Verleihung des Stadt- rechts an sie durchsetzten, und die nun gegenüber städtischen Begriffen und Ansprüchen doch zu klein waren. Ein Rückgang der kleinen Städte als solcher ist sicher im vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen Territorien Deutschlands beförderten ebenfalls eine gleich- mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine Residenz, dort eine Universität, da war Garnison, dort eine Kriegs- und Domänenkammer, ein Oberlandes- gericht.
Diese bestehenden Verhältnisse ändern sich nur schwer und langsam, aber immer sind schon wesentliche Umbil- dungen eingetreten. Die volkswirthschaftlichen Aenderun- gen machen sich nach und nach unerbittlich geltend. In Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor Allem an die Resultate von Roscher's Untersuchung über den Standort der Industriezweige erinnern.1 Er führt aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen
1 Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1865, Heft 2. S. 139--201.
Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit.
kehrsmittelpunkte noch begünſtigt. Die Klagen aus dem vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte ſind mehr auf die allgemeinen Urſachen gewerblichen Still- ſtands zurückzuführen; theilweiſe ſind ſie nur Ausdrücke egoiſtiſcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande zulaſſen; theilweiſe beruhen ſie auf einem Irrthum. Sie beziehen ſich auf Orte, die niemals größer waren, Orte, welche erſt in der Zeit des kleinſtaatlichen Despotismus — der Märkte und der unbeſchränkten Aufnahme von Gewerbtreibenden wegen — die Verleihung des Stadt- rechts an ſie durchſetzten, und die nun gegenüber ſtädtiſchen Begriffen und Anſprüchen doch zu klein waren. Ein Rückgang der kleinen Städte als ſolcher iſt ſicher im vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen Territorien Deutſchlands beförderten ebenfalls eine gleich- mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine Reſidenz, dort eine Univerſität, da war Garniſon, dort eine Kriegs- und Domänenkammer, ein Oberlandes- gericht.
Dieſe beſtehenden Verhältniſſe ändern ſich nur ſchwer und langſam, aber immer ſind ſchon weſentliche Umbil- dungen eingetreten. Die volkswirthſchaftlichen Aenderun- gen machen ſich nach und nach unerbittlich geltend. In Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor Allem an die Reſultate von Roſcher’s Unterſuchung über den Standort der Induſtriezweige erinnern.1 Er führt aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen
1 Deutſche Vierteljahrs-Schrift 1865, Heft 2. S. 139—201.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0207"n="185"/><fwplace="top"type="header">Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit.</fw><lb/>
kehrsmittelpunkte noch begünſtigt. Die Klagen aus dem<lb/>
vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte<lb/>ſind mehr auf die allgemeinen Urſachen gewerblichen Still-<lb/>ſtands zurückzuführen; theilweiſe ſind ſie nur Ausdrücke<lb/>
egoiſtiſcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte<lb/>
Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande<lb/>
zulaſſen; theilweiſe beruhen ſie auf einem Irrthum. Sie<lb/>
beziehen ſich auf Orte, die niemals größer waren, Orte,<lb/>
welche erſt in der Zeit des kleinſtaatlichen Despotismus<lb/>— der Märkte und der unbeſchränkten Aufnahme von<lb/>
Gewerbtreibenden wegen — die Verleihung des Stadt-<lb/>
rechts an ſie durchſetzten, und die nun gegenüber ſtädtiſchen<lb/>
Begriffen und Anſprüchen doch zu klein waren. Ein<lb/>
Rückgang der kleinen Städte als ſolcher iſt ſicher im<lb/>
vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen<lb/>
Territorien Deutſchlands beförderten ebenfalls eine gleich-<lb/>
mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine<lb/>
Reſidenz, dort eine Univerſität, da war Garniſon, dort<lb/>
eine Kriegs- und Domänenkammer, ein Oberlandes-<lb/>
gericht.</p><lb/><p>Dieſe beſtehenden Verhältniſſe ändern ſich nur ſchwer<lb/>
und langſam, aber immer ſind ſchon weſentliche Umbil-<lb/>
dungen eingetreten. Die volkswirthſchaftlichen Aenderun-<lb/>
gen machen ſich nach und nach unerbittlich geltend. In<lb/>
Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor<lb/>
Allem an die Reſultate von Roſcher’s Unterſuchung über<lb/>
den Standort der Induſtriezweige erinnern.<noteplace="foot"n="1">Deutſche Vierteljahrs-Schrift 1865, Heft 2. S. 139—201.</note> Er führt<lb/>
aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[185/0207]
Die Vertheilung der Bevölkerung in alter Zeit.
kehrsmittelpunkte noch begünſtigt. Die Klagen aus dem
vorigen Jahrhundert über den Verfall der Landſtädte
ſind mehr auf die allgemeinen Urſachen gewerblichen Still-
ſtands zurückzuführen; theilweiſe ſind ſie nur Ausdrücke
egoiſtiſcher Unzufriedenheit darüber, daß aufgeklärte
Regierungen einige Handwerker mehr auf dem Lande
zulaſſen; theilweiſe beruhen ſie auf einem Irrthum. Sie
beziehen ſich auf Orte, die niemals größer waren, Orte,
welche erſt in der Zeit des kleinſtaatlichen Despotismus
— der Märkte und der unbeſchränkten Aufnahme von
Gewerbtreibenden wegen — die Verleihung des Stadt-
rechts an ſie durchſetzten, und die nun gegenüber ſtädtiſchen
Begriffen und Anſprüchen doch zu klein waren. Ein
Rückgang der kleinen Städte als ſolcher iſt ſicher im
vorigen Jahrhundert nicht eingetreten. Die kleinen
Territorien Deutſchlands beförderten ebenfalls eine gleich-
mäßige Vertheilung der Bevölkerung; da war eine kleine
Reſidenz, dort eine Univerſität, da war Garniſon, dort
eine Kriegs- und Domänenkammer, ein Oberlandes-
gericht.
Dieſe beſtehenden Verhältniſſe ändern ſich nur ſchwer
und langſam, aber immer ſind ſchon weſentliche Umbil-
dungen eingetreten. Die volkswirthſchaftlichen Aenderun-
gen machen ſich nach und nach unerbittlich geltend. In
Bezug auf die gewerbliche Entwicklung möchte ich vor
Allem an die Reſultate von Roſcher’s Unterſuchung über
den Standort der Induſtriezweige erinnern. 1 Er führt
aus, wie im Mittelalter, überhaupt in Zeiten geringen
1 Deutſche Vierteljahrs-Schrift 1865, Heft 2. S. 139—201.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/207>, abgerufen am 06.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.