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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Antike volkswirtschaftliche Litteratur.

35. Die griechisch-römischen Lehren von Staat, Gesellschaft, Moral,
Recht und Volkswirtschaft gehören der Epoche an, in welcher theoretisch zum erstenmale
ein gedankenmäßiger Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens gefunden und in
welcher praktisch die älteren kleinen Städtestaaten sich erst in das makedonische, dann in
das römische Weltreich auflösten. In Griechenland ist es das 5. bis 3. Jahrhundert
vor Christi, in Rom das Ende der Republik, der Anfang des Principats. Dort hatten
in rascher Entwickelung die alten aristokratischen Verfassungen der äußersten Demokratie
Platz gemacht: den dorischen Ackerbaustaaten stand die Blüte des Seehandels und der
Gewerbe bei den Joniern gegenüber; Geldwirtschaft, Kredit, Spekulation, Luxus, scham-
lose Erwerbssucht hatten hier Platz gegriffen, die alten Zustände aufgelöst; der Mittel-
stand verschwand; die wenigen Reichen und die Masse der armen Bürger, die nicht
arbeiten, sondern vom Staate leben wollten, standen sich aufs schroffste gegenüber; ver-
nichtende sociale Kämpfe und kommunistische Projekte waren an der Tagesordnung.
Unter dem Einfluß der großen Verfassungs- und Wirtschaftskämpfe entstand die uns
heute noch, wenigstens bruchstückweise, erkennbare Litteratur.

Während der Verächter der Demokratie, der große Heraklit (+ 475 v. Chr.) noch
alle Gesetze und alle Ordnung der Gesellschaft auf die Gottheit zurückführt und zur
Eintracht im Staate mahnt, sind es die Lehrer und Freunde der siegenden Demokratie,
die Sophisten, welche das Individuum, seine Lust und seinen Nutzen als Princip ihrer
Ethik, Recht und Gesetz als willkürliche Satzungen, als ein Machwerk der Starken hin-
stellen, die Gesellschaft unter dem Bilde des Kampfes der Starken mit den Schwachen
begreifen, den Staat als durch Vertrag entstanden betrachten. Ihnen stellt Plato
(+ 347 v. Chr.) seine Lehre von der Objektivität des Guten und der Herrschaft der
göttlichen Ideen in der Welt und das Ideal eines aristokratisch-agrarischen Staates
entgegen, in welchem eine philosophische Beamtenklasse ohne Privatbesitz regiert, in dem der
Grundbesitz, der Erwerb, die Aus- und Einfuhr, die Erziehung durch strenge Ordnungen
gebunden und reguliert sind. Seine beiden Werke über den Staat und über die Gesetze
sind die tiefernsten Mahnworte zur Umkehr und Besserung an die genuß- und herrsch-
süchtige Demokratie seiner Vaterstadt Athen, an deren Zukunft er verzweifelt. Er ist nicht
Kommunist, sondern verlangt nur für die kleine herrschende Aristokratie Verzicht auf
Sondereigen und Sonderkinder, um deren Egoismus und Habsucht zu bannen.

Dem großen Idealisten treten teils gleichzeitig, teils direkt folgend die drei Realisten
zur Seite: der Historiker Thukidides, der seine historische Erzählung aufbaut auf die
Beobachtung und Würdigung der wichtigsten staatlichen und volkswirtschaftlichen Er-
scheinungen seiner Zeit; der Feldherr Xenophon, der neben historischen staatswissenschaft-
liche und volkswirtschaftliche Werke und darin über Staatseinnahmen, Hauswirtschaft,
Geldwesen, Arbeitsteilung schreibt und den gesunkenen Republiken das Bild eines edlen
Königtums vorhält; endlich Aristteles (385--322 v. Chr.), dem die vollendetste Ver-
bindung empirischer Beobachtung mit generalisierender wissenschaftlicher Betrachtung im
Altertum gelingt, der mit seiner Ethik, Politik und Ökonomik auch als der Ahnherr
aller eigentlichen Staatswissenschaft gelten kann. Sein Hauptinteresse ist den politischen
Verfassungsformen zugewendet; aber auch über das wirtschaftliche und sociale Leben
hat er bedeutsame Wahrheiten ausgesprochen.

Überall vom praktischen Leben ausgehend, knüpft Aristoteles das Gute und Sitt-
liche an das Natürliche, die Tugenden an die von der Vernunft regulierten Triebe an.
Staat und Gesellschaft läßt er nicht aus dem Kampfe feindlicher Individuen, aus Not
und Vertrag, sondern aus einem angeborenen gesellig-sympathischen Triebe hervorgehen.
Der Staat ist ihm nicht ein möglichst einheitlich organisierter Mensch im großen, wie
dem Plato, sondern eine Vielheit von sich ergänzenden Individuen, Familien und
Gemeinden; er betrachtet ihn als ein in der Natur begründetes Zwecksystem, in dem
die Teile sich dem Ganzen unterzuordnen haben, dessen Selbständigkeit und Harmonie
den Herrschenden und Beherrschten, den Klassen und den Individuen ihre Sphäre, ihre
Pflichten vorschreibt. Er schildert, wie aus der Arbeitsteilung und Besitzverteilung die
socialen Klassen und Berufsstände sich bilden. Er setzt die natürliche alte Haushalts-

Antike volkswirtſchaftliche Litteratur.

35. Die griechiſch-römiſchen Lehren von Staat, Geſellſchaft, Moral,
Recht und Volkswirtſchaft gehören der Epoche an, in welcher theoretiſch zum erſtenmale
ein gedankenmäßiger Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens gefunden und in
welcher praktiſch die älteren kleinen Städteſtaaten ſich erſt in das makedoniſche, dann in
das römiſche Weltreich auflöſten. In Griechenland iſt es das 5. bis 3. Jahrhundert
vor Chriſti, in Rom das Ende der Republik, der Anfang des Principats. Dort hatten
in raſcher Entwickelung die alten ariſtokratiſchen Verfaſſungen der äußerſten Demokratie
Platz gemacht: den doriſchen Ackerbauſtaaten ſtand die Blüte des Seehandels und der
Gewerbe bei den Joniern gegenüber; Geldwirtſchaft, Kredit, Spekulation, Luxus, ſcham-
loſe Erwerbsſucht hatten hier Platz gegriffen, die alten Zuſtände aufgelöſt; der Mittel-
ſtand verſchwand; die wenigen Reichen und die Maſſe der armen Bürger, die nicht
arbeiten, ſondern vom Staate leben wollten, ſtanden ſich aufs ſchroffſte gegenüber; ver-
nichtende ſociale Kämpfe und kommuniſtiſche Projekte waren an der Tagesordnung.
Unter dem Einfluß der großen Verfaſſungs- und Wirtſchaftskämpfe entſtand die uns
heute noch, wenigſtens bruchſtückweiſe, erkennbare Litteratur.

Während der Verächter der Demokratie, der große Heraklit († 475 v. Chr.) noch
alle Geſetze und alle Ordnung der Geſellſchaft auf die Gottheit zurückführt und zur
Eintracht im Staate mahnt, ſind es die Lehrer und Freunde der ſiegenden Demokratie,
die Sophiſten, welche das Individuum, ſeine Luſt und ſeinen Nutzen als Princip ihrer
Ethik, Recht und Geſetz als willkürliche Satzungen, als ein Machwerk der Starken hin-
ſtellen, die Geſellſchaft unter dem Bilde des Kampfes der Starken mit den Schwachen
begreifen, den Staat als durch Vertrag entſtanden betrachten. Ihnen ſtellt Plato
(† 347 v. Chr.) ſeine Lehre von der Objektivität des Guten und der Herrſchaft der
göttlichen Ideen in der Welt und das Ideal eines ariſtokratiſch-agrariſchen Staates
entgegen, in welchem eine philoſophiſche Beamtenklaſſe ohne Privatbeſitz regiert, in dem der
Grundbeſitz, der Erwerb, die Aus- und Einfuhr, die Erziehung durch ſtrenge Ordnungen
gebunden und reguliert ſind. Seine beiden Werke über den Staat und über die Geſetze
ſind die tiefernſten Mahnworte zur Umkehr und Beſſerung an die genuß- und herrſch-
ſüchtige Demokratie ſeiner Vaterſtadt Athen, an deren Zukunft er verzweifelt. Er iſt nicht
Kommuniſt, ſondern verlangt nur für die kleine herrſchende Ariſtokratie Verzicht auf
Sondereigen und Sonderkinder, um deren Egoismus und Habſucht zu bannen.

Dem großen Idealiſten treten teils gleichzeitig, teils direkt folgend die drei Realiſten
zur Seite: der Hiſtoriker Thukidides, der ſeine hiſtoriſche Erzählung aufbaut auf die
Beobachtung und Würdigung der wichtigſten ſtaatlichen und volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen ſeiner Zeit; der Feldherr Xenophon, der neben hiſtoriſchen ſtaatswiſſenſchaft-
liche und volkswirtſchaftliche Werke und darin über Staatseinnahmen, Hauswirtſchaft,
Geldweſen, Arbeitsteilung ſchreibt und den geſunkenen Republiken das Bild eines edlen
Königtums vorhält; endlich Ariſtteles (385—322 v. Chr.), dem die vollendetſte Ver-
bindung empiriſcher Beobachtung mit generaliſierender wiſſenſchaftlicher Betrachtung im
Altertum gelingt, der mit ſeiner Ethik, Politik und Ökonomik auch als der Ahnherr
aller eigentlichen Staatswiſſenſchaft gelten kann. Sein Hauptintereſſe iſt den politiſchen
Verfaſſungsformen zugewendet; aber auch über das wirtſchaftliche und ſociale Leben
hat er bedeutſame Wahrheiten ausgeſprochen.

Überall vom praktiſchen Leben ausgehend, knüpft Ariſtoteles das Gute und Sitt-
liche an das Natürliche, die Tugenden an die von der Vernunft regulierten Triebe an.
Staat und Geſellſchaft läßt er nicht aus dem Kampfe feindlicher Individuen, aus Not
und Vertrag, ſondern aus einem angeborenen geſellig-ſympathiſchen Triebe hervorgehen.
Der Staat iſt ihm nicht ein möglichſt einheitlich organiſierter Menſch im großen, wie
dem Plato, ſondern eine Vielheit von ſich ergänzenden Individuen, Familien und
Gemeinden; er betrachtet ihn als ein in der Natur begründetes Zweckſyſtem, in dem
die Teile ſich dem Ganzen unterzuordnen haben, deſſen Selbſtändigkeit und Harmonie
den Herrſchenden und Beherrſchten, den Klaſſen und den Individuen ihre Sphäre, ihre
Pflichten vorſchreibt. Er ſchildert, wie aus der Arbeitsteilung und Beſitzverteilung die
ſocialen Klaſſen und Berufsſtände ſich bilden. Er ſetzt die natürliche alte Haushalts-

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[77/0093] Antike volkswirtſchaftliche Litteratur. 35. Die griechiſch-römiſchen Lehren von Staat, Geſellſchaft, Moral, Recht und Volkswirtſchaft gehören der Epoche an, in welcher theoretiſch zum erſtenmale ein gedankenmäßiger Zuſammenhang des geſellſchaftlichen Lebens gefunden und in welcher praktiſch die älteren kleinen Städteſtaaten ſich erſt in das makedoniſche, dann in das römiſche Weltreich auflöſten. In Griechenland iſt es das 5. bis 3. Jahrhundert vor Chriſti, in Rom das Ende der Republik, der Anfang des Principats. Dort hatten in raſcher Entwickelung die alten ariſtokratiſchen Verfaſſungen der äußerſten Demokratie Platz gemacht: den doriſchen Ackerbauſtaaten ſtand die Blüte des Seehandels und der Gewerbe bei den Joniern gegenüber; Geldwirtſchaft, Kredit, Spekulation, Luxus, ſcham- loſe Erwerbsſucht hatten hier Platz gegriffen, die alten Zuſtände aufgelöſt; der Mittel- ſtand verſchwand; die wenigen Reichen und die Maſſe der armen Bürger, die nicht arbeiten, ſondern vom Staate leben wollten, ſtanden ſich aufs ſchroffſte gegenüber; ver- nichtende ſociale Kämpfe und kommuniſtiſche Projekte waren an der Tagesordnung. Unter dem Einfluß der großen Verfaſſungs- und Wirtſchaftskämpfe entſtand die uns heute noch, wenigſtens bruchſtückweiſe, erkennbare Litteratur. Während der Verächter der Demokratie, der große Heraklit († 475 v. Chr.) noch alle Geſetze und alle Ordnung der Geſellſchaft auf die Gottheit zurückführt und zur Eintracht im Staate mahnt, ſind es die Lehrer und Freunde der ſiegenden Demokratie, die Sophiſten, welche das Individuum, ſeine Luſt und ſeinen Nutzen als Princip ihrer Ethik, Recht und Geſetz als willkürliche Satzungen, als ein Machwerk der Starken hin- ſtellen, die Geſellſchaft unter dem Bilde des Kampfes der Starken mit den Schwachen begreifen, den Staat als durch Vertrag entſtanden betrachten. Ihnen ſtellt Plato († 347 v. Chr.) ſeine Lehre von der Objektivität des Guten und der Herrſchaft der göttlichen Ideen in der Welt und das Ideal eines ariſtokratiſch-agrariſchen Staates entgegen, in welchem eine philoſophiſche Beamtenklaſſe ohne Privatbeſitz regiert, in dem der Grundbeſitz, der Erwerb, die Aus- und Einfuhr, die Erziehung durch ſtrenge Ordnungen gebunden und reguliert ſind. Seine beiden Werke über den Staat und über die Geſetze ſind die tiefernſten Mahnworte zur Umkehr und Beſſerung an die genuß- und herrſch- ſüchtige Demokratie ſeiner Vaterſtadt Athen, an deren Zukunft er verzweifelt. Er iſt nicht Kommuniſt, ſondern verlangt nur für die kleine herrſchende Ariſtokratie Verzicht auf Sondereigen und Sonderkinder, um deren Egoismus und Habſucht zu bannen. Dem großen Idealiſten treten teils gleichzeitig, teils direkt folgend die drei Realiſten zur Seite: der Hiſtoriker Thukidides, der ſeine hiſtoriſche Erzählung aufbaut auf die Beobachtung und Würdigung der wichtigſten ſtaatlichen und volkswirtſchaftlichen Er- ſcheinungen ſeiner Zeit; der Feldherr Xenophon, der neben hiſtoriſchen ſtaatswiſſenſchaft- liche und volkswirtſchaftliche Werke und darin über Staatseinnahmen, Hauswirtſchaft, Geldweſen, Arbeitsteilung ſchreibt und den geſunkenen Republiken das Bild eines edlen Königtums vorhält; endlich Ariſtteles (385—322 v. Chr.), dem die vollendetſte Ver- bindung empiriſcher Beobachtung mit generaliſierender wiſſenſchaftlicher Betrachtung im Altertum gelingt, der mit ſeiner Ethik, Politik und Ökonomik auch als der Ahnherr aller eigentlichen Staatswiſſenſchaft gelten kann. Sein Hauptintereſſe iſt den politiſchen Verfaſſungsformen zugewendet; aber auch über das wirtſchaftliche und ſociale Leben hat er bedeutſame Wahrheiten ausgeſprochen. Überall vom praktiſchen Leben ausgehend, knüpft Ariſtoteles das Gute und Sitt- liche an das Natürliche, die Tugenden an die von der Vernunft regulierten Triebe an. Staat und Geſellſchaft läßt er nicht aus dem Kampfe feindlicher Individuen, aus Not und Vertrag, ſondern aus einem angeborenen geſellig-ſympathiſchen Triebe hervorgehen. Der Staat iſt ihm nicht ein möglichſt einheitlich organiſierter Menſch im großen, wie dem Plato, ſondern eine Vielheit von ſich ergänzenden Individuen, Familien und Gemeinden; er betrachtet ihn als ein in der Natur begründetes Zweckſyſtem, in dem die Teile ſich dem Ganzen unterzuordnen haben, deſſen Selbſtändigkeit und Harmonie den Herrſchenden und Beherrſchten, den Klaſſen und den Individuen ihre Sphäre, ihre Pflichten vorſchreibt. Er ſchildert, wie aus der Arbeitsteilung und Beſitzverteilung die ſocialen Klaſſen und Berufsſtände ſich bilden. Er ſetzt die natürliche alte Haushalts-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/93>, abgerufen am 28.04.2024.