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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Scheidung von Sitte und Recht.
vordringenden christlichen Kultur die Mahlzeiten ebenso wie die Ehe, das Fasten und
das Beten ebenso wie den Staat ordnen wollte. Auch in späteren Epochen, im kalvi-
nistischen Genf, in manchen lutherischen Kleinstaaten, in dem von einem demokratischen
Klerus ganz beherrschten Schottland des 17. Jahrhunderts wiederholen sich Analogien
dieser älteren Kulturzustände; neben einer längst vorhandenen staatlichen Rechtsordnung
hat sich die unbedingte Herrschaft einer strengen kirchlichen, alles beherrschenden starren
Sitte erhalten. Das Wesen aller älteren theokratischen Gesellschaftsverfassung scheint darin
zu liegen, daß Recht und Sitte hoch ausgebildet, ungetrennt von einer einheitlichen,
halb geistlichen, halb weltlichen Gewalt überwacht und streng ausgeführt wird. Das
Resultat kann ein glänzendes in Bezug auf Macht und wirtschaftliche Erfolge, Zucht
und Ordnung sein, so lange Recht und Sitte den realen Menschen und Verhältnissen
richtig angepaßt sind. Die Anpassungsfähigkeit geht aber durch die Starrheit von Recht
und Sitte stets mit der Zeit verloren.

Die Voraussetzungen einer solchen Gesellschaftsverfassung waren: kleine, einheitliche
Gemeinwesen, unveränderte geistige, wirtschaftliche und sociale Verhältnisse, keine großen
intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritte. In größeren Staaten mit verschiedenen
Volkstypen und Lebensbedingungen kann die einheitliche Sitte weder entstehen, noch
erhalten sich da leicht dieselben Vorstellungskreise und religiösen Satzungen durch viele
Generationen hindurch. Aus der Wechselwirkung der verschiedenen Elemente entspringt
Reibung und Fortschritt. Auch in den kleinen Gemeinwesen entsteht mit fortschreitender
Technik, mit Verkehr und Handel das wissenschaftliche Denken, die Kritik, der Zweifel. Die
veränderte Schichtung der Gesellschaft verlangt andere Satzungen, erzeugt andere Ideale
und Ziele. Die alte Sitte, die alte Kirchensatzung, das alte Recht kommt da und dort
ins Wanken; in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft, an den verschiedenen Orten
entstehen verschiedene Regeln der Sitte. Während aber so das sittliche Urteil und die
Sitte sich differenziert, muß das Recht oder wenigstens der wichtigste Teil desselben in
den Händen einer starken Staatsgewalt ein einheitliches bleiben. Es scheidet sich so
nach und nach Sitte und Recht (mores und jus), priesterliche und staatliche Satzung
(themis und nomos, fas und jus). Priester und weltliche Richter sind nicht mehr eins.
Neben den alten Lehren und Kosmogonien der überlieferten Religion entstehen neue
religiöse oder philosophische Theorien und Systeme. In schwerem, erschütterndem Kampfe
ringt das Alte mit dem Neuen. Edle konservative Charaktere kämpfen, wie Cato, für die
Erhaltung des Bestehenden, weil sie fürchten, daß mit seiner Auflösung alle sittliche
Zucht und Ordnung verschwinde; größere Geister, wie Sokrates, Christus, Luther, stehen
auf der Seite der Neuerer und schaffen den Boden für eine neue Kulturwelt, wenn sie
mit dem kühnen Mut des Reformators den Adel des sittlichen Genius verbinden.

Zugleich knüpft an diese Epochen der großen Geisteskämpfe sich die definitive
Scheidung von Sitte, Recht und Moral an.

27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte. In unseren modernen
Kulturstaaten stehen sich Sitte und Recht als zwei scheinbar ganz getrennte Lebens-
ordnungen gegenüber. Nur zu oft scheint man zu vergessen, daß sie Kinder derselben
Mutter sind, daß sie eigentlich mit verschiedenen Mitteln dasselbe wollen. Freilich äußern
sie sich zunächst recht verschieden, haben einen verschieden formalen Charakter.

Dieser tritt allerdings erst zu Tage, wenn das Recht aufgezeichnet und besonderen
Organen zur Handhabung übergeben wird. So lange das Recht nicht aufgezeichnet ist,
bleibt die Grenze zwischen Sitte und Recht eine fließende. Auch die älteren Aufzeich-
nungen, wie z. B. die Weistümer der bäuerlichen Gemeinden, die Zunftstatute, die
Hofordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthalten noch neben dem Recht mancherlei
Regeln der Sitte. Aber mehr und mehr muß die Trennung Platz greifen. Die schriftliche
Fixierung der Sitte ist nicht Bedürfnis, ist oft sehr schwierig oder gar nicht möglich;
sie muß in freiem Flusse sich überall verschieden gestalten können, während das Recht
die wichtigsten Regeln für weitere Kreise, ganze Städte und Staaten immer mehr
klar, genau, für jeden verständlich verzeichnen soll; es entstehen die Rechtsbücher und
Gesetze, es bildet sich jenes positive Recht, das nach geographischer Ausdehnung, nach

Die Scheidung von Sitte und Recht.
vordringenden chriſtlichen Kultur die Mahlzeiten ebenſo wie die Ehe, das Faſten und
das Beten ebenſo wie den Staat ordnen wollte. Auch in ſpäteren Epochen, im kalvi-
niſtiſchen Genf, in manchen lutheriſchen Kleinſtaaten, in dem von einem demokratiſchen
Klerus ganz beherrſchten Schottland des 17. Jahrhunderts wiederholen ſich Analogien
dieſer älteren Kulturzuſtände; neben einer längſt vorhandenen ſtaatlichen Rechtsordnung
hat ſich die unbedingte Herrſchaft einer ſtrengen kirchlichen, alles beherrſchenden ſtarren
Sitte erhalten. Das Weſen aller älteren theokratiſchen Geſellſchaftsverfaſſung ſcheint darin
zu liegen, daß Recht und Sitte hoch ausgebildet, ungetrennt von einer einheitlichen,
halb geiſtlichen, halb weltlichen Gewalt überwacht und ſtreng ausgeführt wird. Das
Reſultat kann ein glänzendes in Bezug auf Macht und wirtſchaftliche Erfolge, Zucht
und Ordnung ſein, ſo lange Recht und Sitte den realen Menſchen und Verhältniſſen
richtig angepaßt ſind. Die Anpaſſungsfähigkeit geht aber durch die Starrheit von Recht
und Sitte ſtets mit der Zeit verloren.

Die Vorausſetzungen einer ſolchen Geſellſchaftsverfaſſung waren: kleine, einheitliche
Gemeinweſen, unveränderte geiſtige, wirtſchaftliche und ſociale Verhältniſſe, keine großen
intellektuellen und wiſſenſchaftlichen Fortſchritte. In größeren Staaten mit verſchiedenen
Volkstypen und Lebensbedingungen kann die einheitliche Sitte weder entſtehen, noch
erhalten ſich da leicht dieſelben Vorſtellungskreiſe und religiöſen Satzungen durch viele
Generationen hindurch. Aus der Wechſelwirkung der verſchiedenen Elemente entſpringt
Reibung und Fortſchritt. Auch in den kleinen Gemeinweſen entſteht mit fortſchreitender
Technik, mit Verkehr und Handel das wiſſenſchaftliche Denken, die Kritik, der Zweifel. Die
veränderte Schichtung der Geſellſchaft verlangt andere Satzungen, erzeugt andere Ideale
und Ziele. Die alte Sitte, die alte Kirchenſatzung, das alte Recht kommt da und dort
ins Wanken; in den verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft, an den verſchiedenen Orten
entſtehen verſchiedene Regeln der Sitte. Während aber ſo das ſittliche Urteil und die
Sitte ſich differenziert, muß das Recht oder wenigſtens der wichtigſte Teil desſelben in
den Händen einer ſtarken Staatsgewalt ein einheitliches bleiben. Es ſcheidet ſich ſo
nach und nach Sitte und Recht (mores und jus), prieſterliche und ſtaatliche Satzung
(ϑέμις und νόμος, fas und jus). Prieſter und weltliche Richter ſind nicht mehr eins.
Neben den alten Lehren und Kosmogonien der überlieferten Religion entſtehen neue
religiöſe oder philoſophiſche Theorien und Syſteme. In ſchwerem, erſchütterndem Kampfe
ringt das Alte mit dem Neuen. Edle konſervative Charaktere kämpfen, wie Cato, für die
Erhaltung des Beſtehenden, weil ſie fürchten, daß mit ſeiner Auflöſung alle ſittliche
Zucht und Ordnung verſchwinde; größere Geiſter, wie Sokrates, Chriſtus, Luther, ſtehen
auf der Seite der Neuerer und ſchaffen den Boden für eine neue Kulturwelt, wenn ſie
mit dem kühnen Mut des Reformators den Adel des ſittlichen Genius verbinden.

Zugleich knüpft an dieſe Epochen der großen Geiſteskämpfe ſich die definitive
Scheidung von Sitte, Recht und Moral an.

27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte. In unſeren modernen
Kulturſtaaten ſtehen ſich Sitte und Recht als zwei ſcheinbar ganz getrennte Lebens-
ordnungen gegenüber. Nur zu oft ſcheint man zu vergeſſen, daß ſie Kinder derſelben
Mutter ſind, daß ſie eigentlich mit verſchiedenen Mitteln dasſelbe wollen. Freilich äußern
ſie ſich zunächſt recht verſchieden, haben einen verſchieden formalen Charakter.

Dieſer tritt allerdings erſt zu Tage, wenn das Recht aufgezeichnet und beſonderen
Organen zur Handhabung übergeben wird. So lange das Recht nicht aufgezeichnet iſt,
bleibt die Grenze zwiſchen Sitte und Recht eine fließende. Auch die älteren Aufzeich-
nungen, wie z. B. die Weistümer der bäuerlichen Gemeinden, die Zunftſtatute, die
Hofordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthalten noch neben dem Recht mancherlei
Regeln der Sitte. Aber mehr und mehr muß die Trennung Platz greifen. Die ſchriftliche
Fixierung der Sitte iſt nicht Bedürfnis, iſt oft ſehr ſchwierig oder gar nicht möglich;
ſie muß in freiem Fluſſe ſich überall verſchieden geſtalten können, während das Recht
die wichtigſten Regeln für weitere Kreiſe, ganze Städte und Staaten immer mehr
klar, genau, für jeden verſtändlich verzeichnen ſoll; es entſtehen die Rechtsbücher und
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[53/0069] Die Scheidung von Sitte und Recht. vordringenden chriſtlichen Kultur die Mahlzeiten ebenſo wie die Ehe, das Faſten und das Beten ebenſo wie den Staat ordnen wollte. Auch in ſpäteren Epochen, im kalvi- niſtiſchen Genf, in manchen lutheriſchen Kleinſtaaten, in dem von einem demokratiſchen Klerus ganz beherrſchten Schottland des 17. Jahrhunderts wiederholen ſich Analogien dieſer älteren Kulturzuſtände; neben einer längſt vorhandenen ſtaatlichen Rechtsordnung hat ſich die unbedingte Herrſchaft einer ſtrengen kirchlichen, alles beherrſchenden ſtarren Sitte erhalten. Das Weſen aller älteren theokratiſchen Geſellſchaftsverfaſſung ſcheint darin zu liegen, daß Recht und Sitte hoch ausgebildet, ungetrennt von einer einheitlichen, halb geiſtlichen, halb weltlichen Gewalt überwacht und ſtreng ausgeführt wird. Das Reſultat kann ein glänzendes in Bezug auf Macht und wirtſchaftliche Erfolge, Zucht und Ordnung ſein, ſo lange Recht und Sitte den realen Menſchen und Verhältniſſen richtig angepaßt ſind. Die Anpaſſungsfähigkeit geht aber durch die Starrheit von Recht und Sitte ſtets mit der Zeit verloren. Die Vorausſetzungen einer ſolchen Geſellſchaftsverfaſſung waren: kleine, einheitliche Gemeinweſen, unveränderte geiſtige, wirtſchaftliche und ſociale Verhältniſſe, keine großen intellektuellen und wiſſenſchaftlichen Fortſchritte. In größeren Staaten mit verſchiedenen Volkstypen und Lebensbedingungen kann die einheitliche Sitte weder entſtehen, noch erhalten ſich da leicht dieſelben Vorſtellungskreiſe und religiöſen Satzungen durch viele Generationen hindurch. Aus der Wechſelwirkung der verſchiedenen Elemente entſpringt Reibung und Fortſchritt. Auch in den kleinen Gemeinweſen entſteht mit fortſchreitender Technik, mit Verkehr und Handel das wiſſenſchaftliche Denken, die Kritik, der Zweifel. Die veränderte Schichtung der Geſellſchaft verlangt andere Satzungen, erzeugt andere Ideale und Ziele. Die alte Sitte, die alte Kirchenſatzung, das alte Recht kommt da und dort ins Wanken; in den verſchiedenen Schichten der Geſellſchaft, an den verſchiedenen Orten entſtehen verſchiedene Regeln der Sitte. Während aber ſo das ſittliche Urteil und die Sitte ſich differenziert, muß das Recht oder wenigſtens der wichtigſte Teil desſelben in den Händen einer ſtarken Staatsgewalt ein einheitliches bleiben. Es ſcheidet ſich ſo nach und nach Sitte und Recht (mores und jus), prieſterliche und ſtaatliche Satzung (ϑέμις und νόμος, fas und jus). Prieſter und weltliche Richter ſind nicht mehr eins. Neben den alten Lehren und Kosmogonien der überlieferten Religion entſtehen neue religiöſe oder philoſophiſche Theorien und Syſteme. In ſchwerem, erſchütterndem Kampfe ringt das Alte mit dem Neuen. Edle konſervative Charaktere kämpfen, wie Cato, für die Erhaltung des Beſtehenden, weil ſie fürchten, daß mit ſeiner Auflöſung alle ſittliche Zucht und Ordnung verſchwinde; größere Geiſter, wie Sokrates, Chriſtus, Luther, ſtehen auf der Seite der Neuerer und ſchaffen den Boden für eine neue Kulturwelt, wenn ſie mit dem kühnen Mut des Reformators den Adel des ſittlichen Genius verbinden. Zugleich knüpft an dieſe Epochen der großen Geiſteskämpfe ſich die definitive Scheidung von Sitte, Recht und Moral an. 27. Die Scheidung des Rechtes von der Sitte. In unſeren modernen Kulturſtaaten ſtehen ſich Sitte und Recht als zwei ſcheinbar ganz getrennte Lebens- ordnungen gegenüber. Nur zu oft ſcheint man zu vergeſſen, daß ſie Kinder derſelben Mutter ſind, daß ſie eigentlich mit verſchiedenen Mitteln dasſelbe wollen. Freilich äußern ſie ſich zunächſt recht verſchieden, haben einen verſchieden formalen Charakter. Dieſer tritt allerdings erſt zu Tage, wenn das Recht aufgezeichnet und beſonderen Organen zur Handhabung übergeben wird. So lange das Recht nicht aufgezeichnet iſt, bleibt die Grenze zwiſchen Sitte und Recht eine fließende. Auch die älteren Aufzeich- nungen, wie z. B. die Weistümer der bäuerlichen Gemeinden, die Zunftſtatute, die Hofordnungen des 15. und 16. Jahrhunderts enthalten noch neben dem Recht mancherlei Regeln der Sitte. Aber mehr und mehr muß die Trennung Platz greifen. Die ſchriftliche Fixierung der Sitte iſt nicht Bedürfnis, iſt oft ſehr ſchwierig oder gar nicht möglich; ſie muß in freiem Fluſſe ſich überall verſchieden geſtalten können, während das Recht die wichtigſten Regeln für weitere Kreiſe, ganze Städte und Staaten immer mehr klar, genau, für jeden verſtändlich verzeichnen ſoll; es entſtehen die Rechtsbücher und Geſetze, es bildet ſich jenes poſitive Recht, das nach geographiſcher Ausdehnung, nach

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/69>, abgerufen am 22.11.2024.