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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Wesen und historische Bedingtheit des Sittlichen.
bezüglich des eigenen Handelns und Empfindens ein. Nur indem der Mensch das Gute,
was er von anderen fordert, auch von sich verlangt, befriedigt er sein Denken, gewinnt
er Achtung vor sich selbst. So erwächst nach und nach in der eigenen Brust jener
unparteiische und stets völlig unterrichtete Zuschauer, der auf all' unsere Motive, auf
all' unser Handeln reagiert, das Gewissen, das mit unnachsichtiger Strenge und mit im-
perativem Charakter uns ermahnt, nach dem Guten und Edeln, nach Ehre und Würde
des Charakters zu streben. Es entstehen so durch den Widerstreit zwischen Gewissen
und augenblicklichen Triebreizen die zwei Seelen in jeder Brust, von denen Plato wie
Goethe reden, jene zwei Gruppen von Antrieben, die im ewigen Kampf den Inhalt alles
Menschenlebens und aller Geschichte ausmachen. Der Kampf kommt niemals ganz zur
Ruhe; in ewiger Oscillation bewegen sich niedrige elementare Vorstellungen und Impulse
neben den höheren, sittlich mehr gebilligten auf und ab in unserer Seele. Aber die höheren
werden doch nach und nach in dem Maße zur vorherrschenden und überwiegenden, ja
ausschließlich bewegenden Kraft in uns, als sie durch Vererbung und Anlage, durch
Erziehung und Übung gestärkt werden, als der Gedankenzug und die Gedankenverbindungen
immer wieder nach dieser Seite geführt, durch verstandesmäßige Ausbildung geklärt, zur
Gefühlsmacht geworden sind, als durch Gewohnheit, Fertigkeit und Sicherheit im Wollen
ein sittlicher Charakter sich gebildet hat.

23. Die historische Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele.
Das Sittliche ist so stets ein Werdendes; die sittliche Entwickelung der Individuen, der
Völker, der Menschheit steht nie still. Die Wahrnehmung also, die schon die Sophisten,
dann Hobbes und Locke machten, daß das Sittliche bei verschiedenen Völkern und zu
verschiedener Zeit ein verschiedenes gewesen, die Wahrnehmung, welche uns die heutige
geographische Aufschließung der Erde noch nachdrücklicher bestätigt hat, wird uns nicht
überraschen. Nur das wäre auffallend, wenn es, wie Lubbock meint, Stämme ohne
sittliches Urteil gäbe. Das ist aber nicht der Fall. Denn die Vorstellungen von gut
und böse, von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen fehlen nirgends ganz.
Sie haben nur notwendig einen verschiedenen materiellen Inhalt, je nach den gesellschaft-
lichen und kulturellen Voraussetzungen, unter welchen die Menschen leben, je nach der
Ausbildung der sittlichen Gefühle und des Denkens. Beim Übergang zu anderen Lebens-
bedingungen muß den einen noch für gut gelten, was den anderen schlecht und ver-
werflich scheint. Wer den wahren Kausalzusammenhang von Handlung und Wirkung,
von komplizierten gesellschaftlichen Einrichtungen nicht kennt, wird sittlich anders urteilen,
als wer ihn durchschaut. Das rohe sittliche Gefühl nimmt keinen Anstoß an dem, vor
was das verfeinerte schaudert. So muß das sittliche Urteil stets sich ändern; aber da
immer neben dem Wechsel der äußeren Verhältnisse die Vervollkommnung unserer Kennt-
nisse und Vorstellungen und die Veredelung unserer Gefühle an der Umbildung arbeitet,
so werden wir einen Fortschritt auf dieser Bahn annehmen können, so werden wir hoffen
können, daß das sittliche Urteil die Zwecke immer richtiger werte.

Wenn der Buschmann es als gute That preist, daß er das Weib eines anderen
sich gewaltsam angeeignet, als böse That verurteilt, wenn ein anderer ihm seine Frau
raubt, so beweist das so wenig einen gänzlichen Mangel sittlichen Urteils, als wenn
man in Sparta die Jünglinge hungern ließ und sie zum Stehlen anleitete, das un-
bestraft blieb, wenn sie sich nur nicht ertappen ließen. Es hat einst für berechtigt ja
notwendig gegolten, einen erheblichen Teil der neugeborenen Kinder und die Greise zu
töten, einem Baumfrevler die Gedärme aus dem Leibe zu winden, um den Baum ein-
zuwickeln, dem angesehenen fremden Gastfreund Frau und Tochter zum Gebrauch anzu-
bieten, Scharen von Sklaven und Weibern beim Tode des Häuptlings zu verbrennen.
Heute erscheint uns dasselbe unsittlich und barbarisch. Aber die Not des Lebens, der
Glaube, nur so den Geistern und Göttern zu gefallen, ließen meist solche Bräuche als
gut und zweckmäßig erscheinen. Nur wenn wir die gesamten äußeren Lebensbedingungen
und die gesamten Kausalvorstellungen und religiösen Ideen eines Stammes und Volkes
kennen, werden wir verstehen, wie das nie ruhende sittliche Werturteil bestimmte Ge-

Weſen und hiſtoriſche Bedingtheit des Sittlichen.
bezüglich des eigenen Handelns und Empfindens ein. Nur indem der Menſch das Gute,
was er von anderen fordert, auch von ſich verlangt, befriedigt er ſein Denken, gewinnt
er Achtung vor ſich ſelbſt. So erwächſt nach und nach in der eigenen Bruſt jener
unparteiiſche und ſtets völlig unterrichtete Zuſchauer, der auf all’ unſere Motive, auf
all’ unſer Handeln reagiert, das Gewiſſen, das mit unnachſichtiger Strenge und mit im-
perativem Charakter uns ermahnt, nach dem Guten und Edeln, nach Ehre und Würde
des Charakters zu ſtreben. Es entſtehen ſo durch den Widerſtreit zwiſchen Gewiſſen
und augenblicklichen Triebreizen die zwei Seelen in jeder Bruſt, von denen Plato wie
Goethe reden, jene zwei Gruppen von Antrieben, die im ewigen Kampf den Inhalt alles
Menſchenlebens und aller Geſchichte ausmachen. Der Kampf kommt niemals ganz zur
Ruhe; in ewiger Oscillation bewegen ſich niedrige elementare Vorſtellungen und Impulſe
neben den höheren, ſittlich mehr gebilligten auf und ab in unſerer Seele. Aber die höheren
werden doch nach und nach in dem Maße zur vorherrſchenden und überwiegenden, ja
ausſchließlich bewegenden Kraft in uns, als ſie durch Vererbung und Anlage, durch
Erziehung und Übung geſtärkt werden, als der Gedankenzug und die Gedankenverbindungen
immer wieder nach dieſer Seite geführt, durch verſtandesmäßige Ausbildung geklärt, zur
Gefühlsmacht geworden ſind, als durch Gewohnheit, Fertigkeit und Sicherheit im Wollen
ein ſittlicher Charakter ſich gebildet hat.

23. Die hiſtoriſche Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele.
Das Sittliche iſt ſo ſtets ein Werdendes; die ſittliche Entwickelung der Individuen, der
Völker, der Menſchheit ſteht nie ſtill. Die Wahrnehmung alſo, die ſchon die Sophiſten,
dann Hobbes und Locke machten, daß das Sittliche bei verſchiedenen Völkern und zu
verſchiedener Zeit ein verſchiedenes geweſen, die Wahrnehmung, welche uns die heutige
geographiſche Aufſchließung der Erde noch nachdrücklicher beſtätigt hat, wird uns nicht
überraſchen. Nur das wäre auffallend, wenn es, wie Lubbock meint, Stämme ohne
ſittliches Urteil gäbe. Das iſt aber nicht der Fall. Denn die Vorſtellungen von gut
und böſe, von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen fehlen nirgends ganz.
Sie haben nur notwendig einen verſchiedenen materiellen Inhalt, je nach den geſellſchaft-
lichen und kulturellen Vorausſetzungen, unter welchen die Menſchen leben, je nach der
Ausbildung der ſittlichen Gefühle und des Denkens. Beim Übergang zu anderen Lebens-
bedingungen muß den einen noch für gut gelten, was den anderen ſchlecht und ver-
werflich ſcheint. Wer den wahren Kauſalzuſammenhang von Handlung und Wirkung,
von komplizierten geſellſchaftlichen Einrichtungen nicht kennt, wird ſittlich anders urteilen,
als wer ihn durchſchaut. Das rohe ſittliche Gefühl nimmt keinen Anſtoß an dem, vor
was das verfeinerte ſchaudert. So muß das ſittliche Urteil ſtets ſich ändern; aber da
immer neben dem Wechſel der äußeren Verhältniſſe die Vervollkommnung unſerer Kennt-
niſſe und Vorſtellungen und die Veredelung unſerer Gefühle an der Umbildung arbeitet,
ſo werden wir einen Fortſchritt auf dieſer Bahn annehmen können, ſo werden wir hoffen
können, daß das ſittliche Urteil die Zwecke immer richtiger werte.

Wenn der Buſchmann es als gute That preiſt, daß er das Weib eines anderen
ſich gewaltſam angeeignet, als böſe That verurteilt, wenn ein anderer ihm ſeine Frau
raubt, ſo beweiſt das ſo wenig einen gänzlichen Mangel ſittlichen Urteils, als wenn
man in Sparta die Jünglinge hungern ließ und ſie zum Stehlen anleitete, das un-
beſtraft blieb, wenn ſie ſich nur nicht ertappen ließen. Es hat einſt für berechtigt ja
notwendig gegolten, einen erheblichen Teil der neugeborenen Kinder und die Greiſe zu
töten, einem Baumfrevler die Gedärme aus dem Leibe zu winden, um den Baum ein-
zuwickeln, dem angeſehenen fremden Gaſtfreund Frau und Tochter zum Gebrauch anzu-
bieten, Scharen von Sklaven und Weibern beim Tode des Häuptlings zu verbrennen.
Heute erſcheint uns dasſelbe unſittlich und barbariſch. Aber die Not des Lebens, der
Glaube, nur ſo den Geiſtern und Göttern zu gefallen, ließen meiſt ſolche Bräuche als
gut und zweckmäßig erſcheinen. Nur wenn wir die geſamten äußeren Lebensbedingungen
und die geſamten Kauſalvorſtellungen und religiöſen Ideen eines Stammes und Volkes
kennen, werden wir verſtehen, wie das nie ruhende ſittliche Werturteil beſtimmte Ge-

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[43/0059] Weſen und hiſtoriſche Bedingtheit des Sittlichen. bezüglich des eigenen Handelns und Empfindens ein. Nur indem der Menſch das Gute, was er von anderen fordert, auch von ſich verlangt, befriedigt er ſein Denken, gewinnt er Achtung vor ſich ſelbſt. So erwächſt nach und nach in der eigenen Bruſt jener unparteiiſche und ſtets völlig unterrichtete Zuſchauer, der auf all’ unſere Motive, auf all’ unſer Handeln reagiert, das Gewiſſen, das mit unnachſichtiger Strenge und mit im- perativem Charakter uns ermahnt, nach dem Guten und Edeln, nach Ehre und Würde des Charakters zu ſtreben. Es entſtehen ſo durch den Widerſtreit zwiſchen Gewiſſen und augenblicklichen Triebreizen die zwei Seelen in jeder Bruſt, von denen Plato wie Goethe reden, jene zwei Gruppen von Antrieben, die im ewigen Kampf den Inhalt alles Menſchenlebens und aller Geſchichte ausmachen. Der Kampf kommt niemals ganz zur Ruhe; in ewiger Oscillation bewegen ſich niedrige elementare Vorſtellungen und Impulſe neben den höheren, ſittlich mehr gebilligten auf und ab in unſerer Seele. Aber die höheren werden doch nach und nach in dem Maße zur vorherrſchenden und überwiegenden, ja ausſchließlich bewegenden Kraft in uns, als ſie durch Vererbung und Anlage, durch Erziehung und Übung geſtärkt werden, als der Gedankenzug und die Gedankenverbindungen immer wieder nach dieſer Seite geführt, durch verſtandesmäßige Ausbildung geklärt, zur Gefühlsmacht geworden ſind, als durch Gewohnheit, Fertigkeit und Sicherheit im Wollen ein ſittlicher Charakter ſich gebildet hat. 23. Die hiſtoriſche Entwickelung des Sittlichen und ihre Ziele. Das Sittliche iſt ſo ſtets ein Werdendes; die ſittliche Entwickelung der Individuen, der Völker, der Menſchheit ſteht nie ſtill. Die Wahrnehmung alſo, die ſchon die Sophiſten, dann Hobbes und Locke machten, daß das Sittliche bei verſchiedenen Völkern und zu verſchiedener Zeit ein verſchiedenes geweſen, die Wahrnehmung, welche uns die heutige geographiſche Aufſchließung der Erde noch nachdrücklicher beſtätigt hat, wird uns nicht überraſchen. Nur das wäre auffallend, wenn es, wie Lubbock meint, Stämme ohne ſittliches Urteil gäbe. Das iſt aber nicht der Fall. Denn die Vorſtellungen von gut und böſe, von zu billigenden und zu mißbilligenden Handlungen fehlen nirgends ganz. Sie haben nur notwendig einen verſchiedenen materiellen Inhalt, je nach den geſellſchaft- lichen und kulturellen Vorausſetzungen, unter welchen die Menſchen leben, je nach der Ausbildung der ſittlichen Gefühle und des Denkens. Beim Übergang zu anderen Lebens- bedingungen muß den einen noch für gut gelten, was den anderen ſchlecht und ver- werflich ſcheint. Wer den wahren Kauſalzuſammenhang von Handlung und Wirkung, von komplizierten geſellſchaftlichen Einrichtungen nicht kennt, wird ſittlich anders urteilen, als wer ihn durchſchaut. Das rohe ſittliche Gefühl nimmt keinen Anſtoß an dem, vor was das verfeinerte ſchaudert. So muß das ſittliche Urteil ſtets ſich ändern; aber da immer neben dem Wechſel der äußeren Verhältniſſe die Vervollkommnung unſerer Kennt- niſſe und Vorſtellungen und die Veredelung unſerer Gefühle an der Umbildung arbeitet, ſo werden wir einen Fortſchritt auf dieſer Bahn annehmen können, ſo werden wir hoffen können, daß das ſittliche Urteil die Zwecke immer richtiger werte. Wenn der Buſchmann es als gute That preiſt, daß er das Weib eines anderen ſich gewaltſam angeeignet, als böſe That verurteilt, wenn ein anderer ihm ſeine Frau raubt, ſo beweiſt das ſo wenig einen gänzlichen Mangel ſittlichen Urteils, als wenn man in Sparta die Jünglinge hungern ließ und ſie zum Stehlen anleitete, das un- beſtraft blieb, wenn ſie ſich nur nicht ertappen ließen. Es hat einſt für berechtigt ja notwendig gegolten, einen erheblichen Teil der neugeborenen Kinder und die Greiſe zu töten, einem Baumfrevler die Gedärme aus dem Leibe zu winden, um den Baum ein- zuwickeln, dem angeſehenen fremden Gaſtfreund Frau und Tochter zum Gebrauch anzu- bieten, Scharen von Sklaven und Weibern beim Tode des Häuptlings zu verbrennen. Heute erſcheint uns dasſelbe unſittlich und barbariſch. Aber die Not des Lebens, der Glaube, nur ſo den Geiſtern und Göttern zu gefallen, ließen meiſt ſolche Bräuche als gut und zweckmäßig erſcheinen. Nur wenn wir die geſamten äußeren Lebensbedingungen und die geſamten Kauſalvorſtellungen und religiöſen Ideen eines Stammes und Volkes kennen, werden wir verſtehen, wie das nie ruhende ſittliche Werturteil beſtimmte Ge-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/59>, abgerufen am 22.11.2024.