Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Das indische Kastenwesen. nach höherer Ehre, legt sich gern ehrende Namen bei; die Wahrung gemeinsamerInteressen, Handelsgebräuche, die gemeinsamen Feste, die Geldsammlung zu wohlthätigen und religiösen Zwecken spielen dabei dieselbe Rolle wie bei unserem mittelalterlichen Zunftwesen. Es wird in den Censusarbeiten von 1872 berichtet, daß die Herabdrückung Indiens durch die Engländer zum reinen Ackerbaustaate und die neuerliche Wieder- belebung vieler Industrien überall große Umwälzungen in diesem gewerblichen Kasten- wesen verursacht habe. Die Erblichkeit der Beschäftigung ist heute noch in Indien wie anderwärts selbstverständliche Regel, wo Geheimnisse und Geschicklichkeiten nicht anders als mündlich überliefert, als Familienbesitz gehütet werden. Der Individualismus ist noch heute so wenig entwickelt, daß das reich gewordene Mitglied einer niederen Kaste eher Tausende bezahlt, seine Kaste durch Priesteraussagen zu heben, als daß es in eine höhere Kaste zu dringen suchte. Aber daneben sind viele Kasten in Auflösung begriffen, andere bilden sich neu. Priesterliche Sprüche und Weihen machen das möglich, wie sie andererseits den Pulaya zwingen, seine Wohnstätte als Düngerhaufen zu bezeichnen und sich im Dickicht vor dem Mann der vornehmen Kaste zu verbergen. Von 100 heutigen indischen Kastennamen gehen durchschnittlich 77 auf die Arbeits- und Berufsthätigkeit, 17 auf Stammnamen, 5 auf geographische, religiöse und andere Ursachen zurück. Das indische Kastenwesen ist so entfernt nichts Einheitliches, sondern es begreift So ist das indische Kastenwesen nicht, wie man oft behauptete, eine Erscheinung, Von der Organisation der griechischen gesellschaftlichen Klassen wissen wir aus Die römische Überlieferung erwähnt Handwerkerzünfte schon für jene Zeit, da Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 26
Das indiſche Kaſtenweſen. nach höherer Ehre, legt ſich gern ehrende Namen bei; die Wahrung gemeinſamerIntereſſen, Handelsgebräuche, die gemeinſamen Feſte, die Geldſammlung zu wohlthätigen und religiöſen Zwecken ſpielen dabei dieſelbe Rolle wie bei unſerem mittelalterlichen Zunftweſen. Es wird in den Cenſusarbeiten von 1872 berichtet, daß die Herabdrückung Indiens durch die Engländer zum reinen Ackerbauſtaate und die neuerliche Wieder- belebung vieler Induſtrien überall große Umwälzungen in dieſem gewerblichen Kaſten- weſen verurſacht habe. Die Erblichkeit der Beſchäftigung iſt heute noch in Indien wie anderwärts ſelbſtverſtändliche Regel, wo Geheimniſſe und Geſchicklichkeiten nicht anders als mündlich überliefert, als Familienbeſitz gehütet werden. Der Individualismus iſt noch heute ſo wenig entwickelt, daß das reich gewordene Mitglied einer niederen Kaſte eher Tauſende bezahlt, ſeine Kaſte durch Prieſterausſagen zu heben, als daß es in eine höhere Kaſte zu dringen ſuchte. Aber daneben ſind viele Kaſten in Auflöſung begriffen, andere bilden ſich neu. Prieſterliche Sprüche und Weihen machen das möglich, wie ſie andererſeits den Pulaya zwingen, ſeine Wohnſtätte als Düngerhaufen zu bezeichnen und ſich im Dickicht vor dem Mann der vornehmen Kaſte zu verbergen. Von 100 heutigen indiſchen Kaſtennamen gehen durchſchnittlich 77 auf die Arbeits- und Berufsthätigkeit, 17 auf Stammnamen, 5 auf geographiſche, religiöſe und andere Urſachen zurück. Das indiſche Kaſtenweſen iſt ſo entfernt nichts Einheitliches, ſondern es begreift So iſt das indiſche Kaſtenweſen nicht, wie man oft behauptete, eine Erſcheinung, Von der Organiſation der griechiſchen geſellſchaftlichen Klaſſen wiſſen wir aus Die römiſche Überlieferung erwähnt Handwerkerzünfte ſchon für jene Zeit, da Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 26
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0417" n="401"/><fw place="top" type="header">Das indiſche Kaſtenweſen.</fw><lb/> nach höherer Ehre, legt ſich gern ehrende Namen bei; die Wahrung gemeinſamer<lb/> Intereſſen, Handelsgebräuche, die gemeinſamen Feſte, die Geldſammlung zu wohlthätigen<lb/> und religiöſen Zwecken ſpielen dabei dieſelbe Rolle wie bei unſerem mittelalterlichen<lb/> Zunftweſen. Es wird in den Cenſusarbeiten von 1872 berichtet, daß die Herabdrückung<lb/> Indiens durch die Engländer zum reinen Ackerbauſtaate und die neuerliche Wieder-<lb/> belebung vieler Induſtrien überall große Umwälzungen in dieſem gewerblichen Kaſten-<lb/> weſen verurſacht habe. Die Erblichkeit der Beſchäftigung iſt heute noch in Indien<lb/> wie anderwärts ſelbſtverſtändliche Regel, wo Geheimniſſe und Geſchicklichkeiten nicht<lb/> anders als mündlich überliefert, als Familienbeſitz gehütet werden. Der Individualismus<lb/> iſt noch heute ſo wenig entwickelt, daß das reich gewordene Mitglied einer niederen<lb/> Kaſte eher Tauſende bezahlt, ſeine Kaſte durch Prieſterausſagen zu heben, als daß es<lb/> in eine höhere Kaſte zu dringen ſuchte. Aber daneben ſind viele Kaſten in Auflöſung<lb/> begriffen, andere bilden ſich neu. Prieſterliche Sprüche und Weihen machen das möglich,<lb/> wie ſie andererſeits den Pulaya zwingen, ſeine Wohnſtätte als Düngerhaufen zu<lb/> bezeichnen und ſich im Dickicht vor dem Mann der vornehmen Kaſte zu verbergen. Von<lb/> 100 heutigen indiſchen Kaſtennamen gehen durchſchnittlich 77 auf die Arbeits- und<lb/> Berufsthätigkeit, 17 auf Stammnamen, 5 auf geographiſche, religiöſe und andere<lb/> Urſachen zurück.</p><lb/> <p>Das indiſche Kaſtenweſen iſt ſo entfernt nichts Einheitliches, ſondern es begreift<lb/> eine Summe kirchlicher und Raſſeſatzungen, eine Fortdauer von Geſchlechtsverbänden<lb/> und eine üppige Wucherung von Beſchäftigungsgilden; das Ganze hat ſeinen Impuls<lb/> durch die Brahmanen, ſeine Ausbildung aber in der Zeit ſinkender Kultur erhalten,<lb/> in einer Zeit, in welcher eine weitgehende Arbeitsteilung und geſellſchaftliche Klaſſen-<lb/> ſpaltung ihre Fortbildung nicht durch ſtarke ſtaatliche Gewalten und eine zielbewußte<lb/> Geſetzgebung, ſondern durch Gewohnheitsrechte und Sitte im Laufe von Jahrhunderten<lb/> empfing.</p><lb/> <p>So iſt das indiſche Kaſtenweſen nicht, wie man oft behauptete, eine Erſcheinung,<lb/> die einzig in ihrer Art wäre. Sie hat Ähnlichkeit mit zahlreichen Einrichtungen halb-<lb/> kultivierter heute noch beſtehender Staaten; ſie hat viel Analogien mit den ſtändiſchen<lb/> Einrichtungen, wie ſie in Japan bis in die neuere Zeit beſtanden, mit den ſtändiſchen<lb/> Inſtitutionen unſeres Mittelalters und wieder mit denen des ſinkenden römiſchen<lb/> Reiches. —</p><lb/> <p>Von der Organiſation der <hi rendition="#g">griechiſchen</hi> geſellſchaftlichen Klaſſen wiſſen wir aus<lb/> der Zeit nach der Auflöſung der Geſchlechtsverbände zu wenig, um ein klares Bild zu<lb/> entwerfen. Wir hören nur, daß die höheren Klaſſen in der Zeit der Auflöſung des<lb/> Verfaſſungslebens vielfach Hetärien, d. h. Schutzbünde zu politiſchen Zwecken gebildet<lb/> haben, daß, als Griechenland Rom unterthan war, gewerbliche Zünfte da und dort<lb/> nachweisbar ſind.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">römiſche</hi> Überlieferung erwähnt Handwerkerzünfte ſchon für jene Zeit, da<lb/> neben die alte Geſchlechtsverfaſſung die Einteilung des Volkes nach Vermögensklaſſen<lb/> tritt; wir wiſſen dann, daß Patricier und Plebejer in der älteren Zeit kaſtenartig von<lb/> einander getrennt ſind, daß die Patricier in den Prieſtertümern und ſonſt eine feſtgeſchloſſene<lb/> bündiſche Organiſation beſitzen. Im übrigen ſiegt in dem urſprünglich kleinen feſt-<lb/> gefügten Staatsweſen der Staatsgedanke ſo gänzlich, daß bald alle größeren Vereine,<lb/> alle politiſchen und religiöſen Körperſchaften erſcheinen, als ob ſie weſentlich durch die<lb/> Staatsautorität beſtünden oder von ihr abhingen. Die <hi rendition="#aq">societas</hi> freilich iſt rein privat-<lb/> rechtlich, hat ihre Blüte in den Finanzgeſchäften und Steuerpachten der Ritter, der<lb/> früheren plebejiſchen reichen Bürgerſchaft. Die <hi rendition="#aq">sodalitates</hi> ſind politiſche Vereine der<lb/> Vornehmen, der Begriff des <hi rendition="#aq">corpus</hi> iſt ein ſehr allgemeiner; dazu gehören die <hi rendition="#aq">universi-<lb/> tates</hi> öffentlich rechtlicher Art wie die Gemeinden, endlich die <hi rendition="#aq">collegia,</hi> d. h. legaliſierte<lb/> Vereine mit ſakralen Beziehungen. Vereine von Beamten und Prieſtern, wie von Hand-<lb/> werkern, Sterbekaſſen und Ausſtattungsgeſellſchaften ſind <hi rendition="#aq">collegia.</hi> Die Handwerkerkollegien<lb/> erhalten ihre <hi rendition="#aq">sacra</hi> vom Senat, ſetzen ausdrückliche oder ſtillſchweigende Staatserlaubnis<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 26</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [401/0417]
Das indiſche Kaſtenweſen.
nach höherer Ehre, legt ſich gern ehrende Namen bei; die Wahrung gemeinſamer
Intereſſen, Handelsgebräuche, die gemeinſamen Feſte, die Geldſammlung zu wohlthätigen
und religiöſen Zwecken ſpielen dabei dieſelbe Rolle wie bei unſerem mittelalterlichen
Zunftweſen. Es wird in den Cenſusarbeiten von 1872 berichtet, daß die Herabdrückung
Indiens durch die Engländer zum reinen Ackerbauſtaate und die neuerliche Wieder-
belebung vieler Induſtrien überall große Umwälzungen in dieſem gewerblichen Kaſten-
weſen verurſacht habe. Die Erblichkeit der Beſchäftigung iſt heute noch in Indien
wie anderwärts ſelbſtverſtändliche Regel, wo Geheimniſſe und Geſchicklichkeiten nicht
anders als mündlich überliefert, als Familienbeſitz gehütet werden. Der Individualismus
iſt noch heute ſo wenig entwickelt, daß das reich gewordene Mitglied einer niederen
Kaſte eher Tauſende bezahlt, ſeine Kaſte durch Prieſterausſagen zu heben, als daß es
in eine höhere Kaſte zu dringen ſuchte. Aber daneben ſind viele Kaſten in Auflöſung
begriffen, andere bilden ſich neu. Prieſterliche Sprüche und Weihen machen das möglich,
wie ſie andererſeits den Pulaya zwingen, ſeine Wohnſtätte als Düngerhaufen zu
bezeichnen und ſich im Dickicht vor dem Mann der vornehmen Kaſte zu verbergen. Von
100 heutigen indiſchen Kaſtennamen gehen durchſchnittlich 77 auf die Arbeits- und
Berufsthätigkeit, 17 auf Stammnamen, 5 auf geographiſche, religiöſe und andere
Urſachen zurück.
Das indiſche Kaſtenweſen iſt ſo entfernt nichts Einheitliches, ſondern es begreift
eine Summe kirchlicher und Raſſeſatzungen, eine Fortdauer von Geſchlechtsverbänden
und eine üppige Wucherung von Beſchäftigungsgilden; das Ganze hat ſeinen Impuls
durch die Brahmanen, ſeine Ausbildung aber in der Zeit ſinkender Kultur erhalten,
in einer Zeit, in welcher eine weitgehende Arbeitsteilung und geſellſchaftliche Klaſſen-
ſpaltung ihre Fortbildung nicht durch ſtarke ſtaatliche Gewalten und eine zielbewußte
Geſetzgebung, ſondern durch Gewohnheitsrechte und Sitte im Laufe von Jahrhunderten
empfing.
So iſt das indiſche Kaſtenweſen nicht, wie man oft behauptete, eine Erſcheinung,
die einzig in ihrer Art wäre. Sie hat Ähnlichkeit mit zahlreichen Einrichtungen halb-
kultivierter heute noch beſtehender Staaten; ſie hat viel Analogien mit den ſtändiſchen
Einrichtungen, wie ſie in Japan bis in die neuere Zeit beſtanden, mit den ſtändiſchen
Inſtitutionen unſeres Mittelalters und wieder mit denen des ſinkenden römiſchen
Reiches. —
Von der Organiſation der griechiſchen geſellſchaftlichen Klaſſen wiſſen wir aus
der Zeit nach der Auflöſung der Geſchlechtsverbände zu wenig, um ein klares Bild zu
entwerfen. Wir hören nur, daß die höheren Klaſſen in der Zeit der Auflöſung des
Verfaſſungslebens vielfach Hetärien, d. h. Schutzbünde zu politiſchen Zwecken gebildet
haben, daß, als Griechenland Rom unterthan war, gewerbliche Zünfte da und dort
nachweisbar ſind.
Die römiſche Überlieferung erwähnt Handwerkerzünfte ſchon für jene Zeit, da
neben die alte Geſchlechtsverfaſſung die Einteilung des Volkes nach Vermögensklaſſen
tritt; wir wiſſen dann, daß Patricier und Plebejer in der älteren Zeit kaſtenartig von
einander getrennt ſind, daß die Patricier in den Prieſtertümern und ſonſt eine feſtgeſchloſſene
bündiſche Organiſation beſitzen. Im übrigen ſiegt in dem urſprünglich kleinen feſt-
gefügten Staatsweſen der Staatsgedanke ſo gänzlich, daß bald alle größeren Vereine,
alle politiſchen und religiöſen Körperſchaften erſcheinen, als ob ſie weſentlich durch die
Staatsautorität beſtünden oder von ihr abhingen. Die societas freilich iſt rein privat-
rechtlich, hat ihre Blüte in den Finanzgeſchäften und Steuerpachten der Ritter, der
früheren plebejiſchen reichen Bürgerſchaft. Die sodalitates ſind politiſche Vereine der
Vornehmen, der Begriff des corpus iſt ein ſehr allgemeiner; dazu gehören die universi-
tates öffentlich rechtlicher Art wie die Gemeinden, endlich die collegia, d. h. legaliſierte
Vereine mit ſakralen Beziehungen. Vereine von Beamten und Prieſtern, wie von Hand-
werkern, Sterbekaſſen und Ausſtattungsgeſellſchaften ſind collegia. Die Handwerkerkollegien
erhalten ihre sacra vom Senat, ſetzen ausdrückliche oder ſtillſchweigende Staatserlaubnis
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 26
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |