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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Neuere Grundeigentumsreformen. Städtisches Grundeigentum.
sehr verkürzt wurde; der grundherrliche Besitz ist seitdem freies Privateigentum des Adels,
der bäuerliche blieb auch jetzt Gemeindeeigentum, wie wir schon erwähnten, das nach
der Kopfzahl der Männer periodischer Neuverteilung unterliegt. Die einsichtigsten Stimmen
gehen dahin, daß mit wachsender Bevölkerung weder die alten Landteilungen sich erhalten
können, weil sie die gesunden normalen Wirtschafts- und Hofeinheiten auseinander
schneiden zu Gunsten eines wirtschaftlich nicht haltbaren Kleinbesitzes, noch daß es
richtig oder möglich wäre, sofort westeuropäisches privates Eigentum einzuführen (Kawelin,
Keußler). Nur eine Sistierung der Landteilungen und eine Verwandlung des bisherigen
bäuerlichen Rechtes auf einen Landanteil in ein beschränktes, von der Gemeinde kontrol-
liertes Nutzungsrecht, mit festen Schranken gegen allzu große Parzellierung und gegen
Anhäufung mehrerer Höfe in einer Hand erscheint als das Ziel einer vernünftigen
Reform.

Auch in Indien stand die brittische Regierung feudalen Grundherren und uralten
Dorfgemeinschaften gegenüber; sie hat zuerst vielfach falsch experimentiert, die Grund-
herren begünstigt, neuerdings aber mit Energie und Glück versucht, einen gegen Pacht-
erhöhungen der Grundherren gesetzlich geschützten Bauernstand zu schaffen. Die Maß-
regeln sind um so bedeutungsvoller, als sie sich auf einen großen Teil des rein agrikolen
Landes mit 253 Mill. Menschen beziehen, während die russische Bauernemancipation nur
auf 22 Mill. Privat- und 23 Mill. domänenbäuerlicher Bevölkerung gerichtet war.

In den Vereinigten Staaten hatten politische und Staatsschuldenrücksichten die
unbebauten Ländereien der Unionsgewalt unterstellt; sie verkaufte, nachdem sie ein aus-
gezeichnetes quadratisches Vermessungssystem angeordnet hatte, das alle Besiedlung für
immer auf die Bahn isolierter, viereckiger Einzelhöfe wies, erst lange aus freier Hand;
eine wüste Spekulation entstand und vielfach übergroßer Grundbesitz in wenigen Händen.
Dagegen reagierte der gesunde demokratische Gedanke, eine Republik solle auf kleinen
Grundeigentümern ruhen, und setzte das Bundesheimstättengesetz von 1860 durch, dessen
Tendenz es ist, Höfe von 160 acres (= 64,0 ha) Landes zu schaffen. Wenn daneben
auch noch die Landschenkungen an die Eisenbahnen und andere Ursachen und gesetz-
geberische Möglichkeiten viel großen Besitz erzeugten, das mittlere und kleine freie Grund-
eigentum überwiegt doch. Und die Nachahmungen dieser amerikanischen Landgesetzgebung
haben sich nicht nur auf Australien, Canada, Chile, Mexiko und andere Staaten er-
streckt, sondern diese Staaten sind auch vielfach noch kühner und energischer vorgegangen
mit der Tendenz, passende mittlere und kleine Wirtschaftseinheiten zu schaffen, die
Spekulation auszuschließen, für die Weide- und Holznutzung im großen Stil, mit der
die Urbarmachung beginnt, nur Pacht zuzulassen. Die ganze neue Welt scheint so unter
ein Grundeigentumsrecht zu kommen, das, verwandt mit der Hufenverfassung, die
Tendenz verfolgt, freies Privateigentum, aber in fest bestimmten Größen zu schaffen.
Die Heimstätte von 160 acres Landes (a 1,6 Morgen oder 40,5 Aren = 64,8 ha) ist
nicht so sehr viel größer als die alte Hufe, die an Garten, Ackerland und Weide
zusammen auf bestem Boden wohl nur 15, auf geringem aber und in den Gebieten
mit Bodenüberfluß auch 50 ha Umfang hatte, wie wir schon wissen.

128. Das städtische Grund- und Hauseigentum. Wie das gesunde
Hufeneigentum des Familienvaters dahin zielte, daß der Eigentümer auf seinem Gute
selbst wirtschafte, so war überall mit der Seßhaftigkeit und dem beginnenden Hausbau
für Hausbesitz und Hausbau der Gedanke maßgebend, daß jede Familie ihre Unabhängigkeit
erhalten solle durch das Eigentum an Haus und Hof, durch die Freiheit, sich das Haus
so zu bauen, wie sie es brauche. Noch heute sind in unseren alten Kulturländern diese
Voraussetzungen vielfach auf dem Lande vorhanden: in jedem Hause trifft man eine
Haushaltung, die meisten Familien wohnen im eigenen Hause, Mietsverhältnisse kommen
nur ausnahmsweise vor. In den Städten aber ist dieses längst anders geworden, der enge
Raum wurde zu mehrstöckigen Häusern benutzt, das Mietsverhältnis wurde allgemeiner,
und heute sind in den meisten unserer Groß-, Mittel- und Fabrikstädte nicht mehr
etwa nur 2--5, sondern 10, 20 ja 30 Haushaltungen auf einem Grundstücke; 90--96 %
aller Familien wohnen in kurzen Kündigungsterminen zur Miete; 5--28 % aller

Neuere Grundeigentumsreformen. Städtiſches Grundeigentum.
ſehr verkürzt wurde; der grundherrliche Beſitz iſt ſeitdem freies Privateigentum des Adels,
der bäuerliche blieb auch jetzt Gemeindeeigentum, wie wir ſchon erwähnten, das nach
der Kopfzahl der Männer periodiſcher Neuverteilung unterliegt. Die einſichtigſten Stimmen
gehen dahin, daß mit wachſender Bevölkerung weder die alten Landteilungen ſich erhalten
können, weil ſie die geſunden normalen Wirtſchafts- und Hofeinheiten auseinander
ſchneiden zu Gunſten eines wirtſchaftlich nicht haltbaren Kleinbeſitzes, noch daß es
richtig oder möglich wäre, ſofort weſteuropäiſches privates Eigentum einzuführen (Kawelin,
Keußler). Nur eine Siſtierung der Landteilungen und eine Verwandlung des bisherigen
bäuerlichen Rechtes auf einen Landanteil in ein beſchränktes, von der Gemeinde kontrol-
liertes Nutzungsrecht, mit feſten Schranken gegen allzu große Parzellierung und gegen
Anhäufung mehrerer Höfe in einer Hand erſcheint als das Ziel einer vernünftigen
Reform.

Auch in Indien ſtand die brittiſche Regierung feudalen Grundherren und uralten
Dorfgemeinſchaften gegenüber; ſie hat zuerſt vielfach falſch experimentiert, die Grund-
herren begünſtigt, neuerdings aber mit Energie und Glück verſucht, einen gegen Pacht-
erhöhungen der Grundherren geſetzlich geſchützten Bauernſtand zu ſchaffen. Die Maß-
regeln ſind um ſo bedeutungsvoller, als ſie ſich auf einen großen Teil des rein agrikolen
Landes mit 253 Mill. Menſchen beziehen, während die ruſſiſche Bauernemancipation nur
auf 22 Mill. Privat- und 23 Mill. domänenbäuerlicher Bevölkerung gerichtet war.

In den Vereinigten Staaten hatten politiſche und Staatsſchuldenrückſichten die
unbebauten Ländereien der Unionsgewalt unterſtellt; ſie verkaufte, nachdem ſie ein aus-
gezeichnetes quadratiſches Vermeſſungsſyſtem angeordnet hatte, das alle Beſiedlung für
immer auf die Bahn iſolierter, viereckiger Einzelhöfe wies, erſt lange aus freier Hand;
eine wüſte Spekulation entſtand und vielfach übergroßer Grundbeſitz in wenigen Händen.
Dagegen reagierte der geſunde demokratiſche Gedanke, eine Republik ſolle auf kleinen
Grundeigentümern ruhen, und ſetzte das Bundesheimſtättengeſetz von 1860 durch, deſſen
Tendenz es iſt, Höfe von 160 acres (= 64,0 ha) Landes zu ſchaffen. Wenn daneben
auch noch die Landſchenkungen an die Eiſenbahnen und andere Urſachen und geſetz-
geberiſche Möglichkeiten viel großen Beſitz erzeugten, das mittlere und kleine freie Grund-
eigentum überwiegt doch. Und die Nachahmungen dieſer amerikaniſchen Landgeſetzgebung
haben ſich nicht nur auf Auſtralien, Canada, Chile, Mexiko und andere Staaten er-
ſtreckt, ſondern dieſe Staaten ſind auch vielfach noch kühner und energiſcher vorgegangen
mit der Tendenz, paſſende mittlere und kleine Wirtſchaftseinheiten zu ſchaffen, die
Spekulation auszuſchließen, für die Weide- und Holznutzung im großen Stil, mit der
die Urbarmachung beginnt, nur Pacht zuzulaſſen. Die ganze neue Welt ſcheint ſo unter
ein Grundeigentumsrecht zu kommen, das, verwandt mit der Hufenverfaſſung, die
Tendenz verfolgt, freies Privateigentum, aber in feſt beſtimmten Größen zu ſchaffen.
Die Heimſtätte von 160 acres Landes 1,6 Morgen oder 40,5 Aren = 64,8 ha) iſt
nicht ſo ſehr viel größer als die alte Hufe, die an Garten, Ackerland und Weide
zuſammen auf beſtem Boden wohl nur 15, auf geringem aber und in den Gebieten
mit Bodenüberfluß auch 50 ha Umfang hatte, wie wir ſchon wiſſen.

128. Das ſtädtiſche Grund- und Hauseigentum. Wie das geſunde
Hufeneigentum des Familienvaters dahin zielte, daß der Eigentümer auf ſeinem Gute
ſelbſt wirtſchafte, ſo war überall mit der Seßhaftigkeit und dem beginnenden Hausbau
für Hausbeſitz und Hausbau der Gedanke maßgebend, daß jede Familie ihre Unabhängigkeit
erhalten ſolle durch das Eigentum an Haus und Hof, durch die Freiheit, ſich das Haus
ſo zu bauen, wie ſie es brauche. Noch heute ſind in unſeren alten Kulturländern dieſe
Vorausſetzungen vielfach auf dem Lande vorhanden: in jedem Hauſe trifft man eine
Haushaltung, die meiſten Familien wohnen im eigenen Hauſe, Mietsverhältniſſe kommen
nur ausnahmsweiſe vor. In den Städten aber iſt dieſes längſt anders geworden, der enge
Raum wurde zu mehrſtöckigen Häuſern benutzt, das Mietsverhältnis wurde allgemeiner,
und heute ſind in den meiſten unſerer Groß-, Mittel- und Fabrikſtädte nicht mehr
etwa nur 2—5, ſondern 10, 20 ja 30 Haushaltungen auf einem Grundſtücke; 90—96 %
aller Familien wohnen in kurzen Kündigungsterminen zur Miete; 5—28 % aller

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[379/0395] Neuere Grundeigentumsreformen. Städtiſches Grundeigentum. ſehr verkürzt wurde; der grundherrliche Beſitz iſt ſeitdem freies Privateigentum des Adels, der bäuerliche blieb auch jetzt Gemeindeeigentum, wie wir ſchon erwähnten, das nach der Kopfzahl der Männer periodiſcher Neuverteilung unterliegt. Die einſichtigſten Stimmen gehen dahin, daß mit wachſender Bevölkerung weder die alten Landteilungen ſich erhalten können, weil ſie die geſunden normalen Wirtſchafts- und Hofeinheiten auseinander ſchneiden zu Gunſten eines wirtſchaftlich nicht haltbaren Kleinbeſitzes, noch daß es richtig oder möglich wäre, ſofort weſteuropäiſches privates Eigentum einzuführen (Kawelin, Keußler). Nur eine Siſtierung der Landteilungen und eine Verwandlung des bisherigen bäuerlichen Rechtes auf einen Landanteil in ein beſchränktes, von der Gemeinde kontrol- liertes Nutzungsrecht, mit feſten Schranken gegen allzu große Parzellierung und gegen Anhäufung mehrerer Höfe in einer Hand erſcheint als das Ziel einer vernünftigen Reform. Auch in Indien ſtand die brittiſche Regierung feudalen Grundherren und uralten Dorfgemeinſchaften gegenüber; ſie hat zuerſt vielfach falſch experimentiert, die Grund- herren begünſtigt, neuerdings aber mit Energie und Glück verſucht, einen gegen Pacht- erhöhungen der Grundherren geſetzlich geſchützten Bauernſtand zu ſchaffen. Die Maß- regeln ſind um ſo bedeutungsvoller, als ſie ſich auf einen großen Teil des rein agrikolen Landes mit 253 Mill. Menſchen beziehen, während die ruſſiſche Bauernemancipation nur auf 22 Mill. Privat- und 23 Mill. domänenbäuerlicher Bevölkerung gerichtet war. In den Vereinigten Staaten hatten politiſche und Staatsſchuldenrückſichten die unbebauten Ländereien der Unionsgewalt unterſtellt; ſie verkaufte, nachdem ſie ein aus- gezeichnetes quadratiſches Vermeſſungsſyſtem angeordnet hatte, das alle Beſiedlung für immer auf die Bahn iſolierter, viereckiger Einzelhöfe wies, erſt lange aus freier Hand; eine wüſte Spekulation entſtand und vielfach übergroßer Grundbeſitz in wenigen Händen. Dagegen reagierte der geſunde demokratiſche Gedanke, eine Republik ſolle auf kleinen Grundeigentümern ruhen, und ſetzte das Bundesheimſtättengeſetz von 1860 durch, deſſen Tendenz es iſt, Höfe von 160 acres (= 64,0 ha) Landes zu ſchaffen. Wenn daneben auch noch die Landſchenkungen an die Eiſenbahnen und andere Urſachen und geſetz- geberiſche Möglichkeiten viel großen Beſitz erzeugten, das mittlere und kleine freie Grund- eigentum überwiegt doch. Und die Nachahmungen dieſer amerikaniſchen Landgeſetzgebung haben ſich nicht nur auf Auſtralien, Canada, Chile, Mexiko und andere Staaten er- ſtreckt, ſondern dieſe Staaten ſind auch vielfach noch kühner und energiſcher vorgegangen mit der Tendenz, paſſende mittlere und kleine Wirtſchaftseinheiten zu ſchaffen, die Spekulation auszuſchließen, für die Weide- und Holznutzung im großen Stil, mit der die Urbarmachung beginnt, nur Pacht zuzulaſſen. Die ganze neue Welt ſcheint ſo unter ein Grundeigentumsrecht zu kommen, das, verwandt mit der Hufenverfaſſung, die Tendenz verfolgt, freies Privateigentum, aber in feſt beſtimmten Größen zu ſchaffen. Die Heimſtätte von 160 acres Landes (à 1,6 Morgen oder 40,5 Aren = 64,8 ha) iſt nicht ſo ſehr viel größer als die alte Hufe, die an Garten, Ackerland und Weide zuſammen auf beſtem Boden wohl nur 15, auf geringem aber und in den Gebieten mit Bodenüberfluß auch 50 ha Umfang hatte, wie wir ſchon wiſſen. 128. Das ſtädtiſche Grund- und Hauseigentum. Wie das geſunde Hufeneigentum des Familienvaters dahin zielte, daß der Eigentümer auf ſeinem Gute ſelbſt wirtſchafte, ſo war überall mit der Seßhaftigkeit und dem beginnenden Hausbau für Hausbeſitz und Hausbau der Gedanke maßgebend, daß jede Familie ihre Unabhängigkeit erhalten ſolle durch das Eigentum an Haus und Hof, durch die Freiheit, ſich das Haus ſo zu bauen, wie ſie es brauche. Noch heute ſind in unſeren alten Kulturländern dieſe Vorausſetzungen vielfach auf dem Lande vorhanden: in jedem Hauſe trifft man eine Haushaltung, die meiſten Familien wohnen im eigenen Hauſe, Mietsverhältniſſe kommen nur ausnahmsweiſe vor. In den Städten aber iſt dieſes längſt anders geworden, der enge Raum wurde zu mehrſtöckigen Häuſern benutzt, das Mietsverhältnis wurde allgemeiner, und heute ſind in den meiſten unſerer Groß-, Mittel- und Fabrikſtädte nicht mehr etwa nur 2—5, ſondern 10, 20 ja 30 Haushaltungen auf einem Grundſtücke; 90—96 % aller Familien wohnen in kurzen Kündigungsterminen zur Miete; 5—28 % aller

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/395>, abgerufen am 27.04.2024.