Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
118. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirt- schaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung. Einzelne Stämme sind seit urdenk- lichen Zeiten je nach Rasse, Klima und Boden, nach Wohnsitzen, nach Flora und Fauna ihres Landes bloße Jäger, bloße Fischer oder bloße Viehzüchter, bloße Bananen- oder Maisesser geblieben, haben ihre agrarische Wirtschaft nicht zu der vielseitigen Gestalt ausgebildet wie die Indogermanen und Semiten, teilweise auch andere Rassen in den gemäßigten Zonen mit ihrer Verbindung von Ackerbau, Viehzucht, Forstnutzung und mancherlei Nebengewerben. Wir haben diese auf Eigenproduktion gerichtete Haus- und Familienwirtschaft schon im Zusammenhange der Geschichte der Technik (S. 204--205), dann für sich geschildert (S. 239--244), dabei auch die Arbeitsteilung dargelegt, die sie besonders in ihrer patriarchalischen Form in den höheren Kreisen der Gesellschaft ausbildete. Die antike Familie mit Hunderten von Sklaven, die mittelalterlich grund- herrliche Fronhof-, Kloster-, Abtei-, Fürstenwirtschaft ist ein hauswirtschaftlicher Groß- betrieb mit einer erheblichen Zahl Hausämter für Stall-, Kriegsrüstung, für Vorrats- haltung in der Kammer, für Küche und Keller, mit einer Anzahl Werkstätten und technischen unfreien Arbeitern. In den großen Patricierhäusern, großen Gutswirtschaften, fürstlichen Haushaltungen dauert bis heute eine solche weitgehende Arbeitsteilung fort. In dem Haushalt des Sultan Abdul Azzis waren in unseren Tagen noch 6124 Personen arbeitsteilig beschäftigt, 359 allein für den Küchendienst.
Daß im übrigen seit Jahrhunderten diese ältere große Hauswirtschaft sich auflöste, daß diese Auflösung sich durch Ausscheidung der gewerblichen Betriebe, durch Ver- wandlung bisheriger arbeitsteiliger Hausbeamten und Diener in selbständige Handwerker und Berufe vollzog, haben wir bei Besprechung der neueren Familie (S. 245--246) ebenfalls schon dargestellt, brauchen das dort Gesagte nicht zu wiederholen. Es ist die große Scheidung, welche heute Landwirtschaft und Gewerbe, in gewissem Sinne auch Stadt und Land als besondere Produktionszweige, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gruppen mit ihrer Eigenart, ihren Sonderinteressen erzeugt hat. Die heutige komplizierte volkswirtschaftliche Organisation hat ihren Hauptzweck darin, durch Handel, Markt und Verkehr diese zwei Hälften doch in rechte Verbindung, zu glattem Zusammenwirken zu bringen.
Der Scheidungsprozeß zwischen den zwei Gebieten ist aber auch heute noch lange kein vollständiger und wird es nie werden; die Scheidung ist ja nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, das nur dort sich einstellt, wo die Produktion dadurch erleichtert, verbessert wird.
Sie kann sich nicht einstellen, wo der Verkehr fehlt: der amerikanische Farmer, der alpine Hofbauer, der schwedische Bauer ist heute noch zugleich Jäger, Baumeister, Tischler, Backsteinbrenner, Weber, Gerber und sonst noch einiges. Sie vollzieht sich aber auch da nicht, wo der kleine Bauer nicht allein recht von seiner Ackerstelle leben kann, wo ein gewisser Absatz von gewerblichen Produkten der Hauswirtschaft -- wo der sogenannte Hausfleiß -- möglich wird, auch wo später der ländliche Handwerker nicht von seinem Gewerbe allein leben kann. In den osteuropäischen und asiatischen Ländern ist so eine große gewerbliche Produktion in den bäuerlichen Familien noch heute. Achtzig Prozent der Bauern in der Umgebung Moskaus verrichten gewerbliche Nebenarbeit. In Mittel- und Westeuropa hat in unserem Jahrhundert mit der Zulassung der Gewerbe auf dem platten Lande der Handwerksbetrieb als Nebenbeschäftigung am meisten, viel mehr als in den Städten zugenommen! Für einen thüringischen Bezirk weist Hildebrand auf 5577 landwirtschaftliche 11752 gemischte Betriebe nach, und für Württemberg berichtet Rümelin, daß von 117000 landwirtschaftlichen Familien etwa 99000 irgend einen Nebenerwerb haben. Nach der deutschen Berufszählung von 1895 haben von den Erwerbsthätigen im Hauptberuf 1 Mill. in der Landwirtschaft, 1,5 Mill. in der Industrie, 3,2 Mill. im ganzen Nebenberufe, und damit ist ihre Zahl entfernt nicht vollständig erfaßt. Von den deutschen Müllern haben 87, den Brauern 74, den Grobschmieden 70, den Stell- machern 66, den Maurern und Zimmerleuten 61, den Bäckern 52 % einen Nebenberuf.
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
118. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirt- ſchaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung. Einzelne Stämme ſind ſeit urdenk- lichen Zeiten je nach Raſſe, Klima und Boden, nach Wohnſitzen, nach Flora und Fauna ihres Landes bloße Jäger, bloße Fiſcher oder bloße Viehzüchter, bloße Bananen- oder Maiseſſer geblieben, haben ihre agrariſche Wirtſchaft nicht zu der vielſeitigen Geſtalt ausgebildet wie die Indogermanen und Semiten, teilweiſe auch andere Raſſen in den gemäßigten Zonen mit ihrer Verbindung von Ackerbau, Viehzucht, Forſtnutzung und mancherlei Nebengewerben. Wir haben dieſe auf Eigenproduktion gerichtete Haus- und Familienwirtſchaft ſchon im Zuſammenhange der Geſchichte der Technik (S. 204—205), dann für ſich geſchildert (S. 239—244), dabei auch die Arbeitsteilung dargelegt, die ſie beſonders in ihrer patriarchaliſchen Form in den höheren Kreiſen der Geſellſchaft ausbildete. Die antike Familie mit Hunderten von Sklaven, die mittelalterlich grund- herrliche Fronhof-, Kloſter-, Abtei-, Fürſtenwirtſchaft iſt ein hauswirtſchaftlicher Groß- betrieb mit einer erheblichen Zahl Hausämter für Stall-, Kriegsrüſtung, für Vorrats- haltung in der Kammer, für Küche und Keller, mit einer Anzahl Werkſtätten und techniſchen unfreien Arbeitern. In den großen Patricierhäuſern, großen Gutswirtſchaften, fürſtlichen Haushaltungen dauert bis heute eine ſolche weitgehende Arbeitsteilung fort. In dem Haushalt des Sultan Abdul Azzis waren in unſeren Tagen noch 6124 Perſonen arbeitsteilig beſchäftigt, 359 allein für den Küchendienſt.
Daß im übrigen ſeit Jahrhunderten dieſe ältere große Hauswirtſchaft ſich auflöſte, daß dieſe Auflöſung ſich durch Ausſcheidung der gewerblichen Betriebe, durch Ver- wandlung bisheriger arbeitsteiliger Hausbeamten und Diener in ſelbſtändige Handwerker und Berufe vollzog, haben wir bei Beſprechung der neueren Familie (S. 245—246) ebenfalls ſchon dargeſtellt, brauchen das dort Geſagte nicht zu wiederholen. Es iſt die große Scheidung, welche heute Landwirtſchaft und Gewerbe, in gewiſſem Sinne auch Stadt und Land als beſondere Produktionszweige, geſellſchaftliche und wirtſchaftliche Gruppen mit ihrer Eigenart, ihren Sonderintereſſen erzeugt hat. Die heutige komplizierte volkswirtſchaftliche Organiſation hat ihren Hauptzweck darin, durch Handel, Markt und Verkehr dieſe zwei Hälften doch in rechte Verbindung, zu glattem Zuſammenwirken zu bringen.
Der Scheidungsprozeß zwiſchen den zwei Gebieten iſt aber auch heute noch lange kein vollſtändiger und wird es nie werden; die Scheidung iſt ja nicht Selbſtzweck, ſondern ein Mittel, das nur dort ſich einſtellt, wo die Produktion dadurch erleichtert, verbeſſert wird.
Sie kann ſich nicht einſtellen, wo der Verkehr fehlt: der amerikaniſche Farmer, der alpine Hofbauer, der ſchwediſche Bauer iſt heute noch zugleich Jäger, Baumeiſter, Tiſchler, Backſteinbrenner, Weber, Gerber und ſonſt noch einiges. Sie vollzieht ſich aber auch da nicht, wo der kleine Bauer nicht allein recht von ſeiner Ackerſtelle leben kann, wo ein gewiſſer Abſatz von gewerblichen Produkten der Hauswirtſchaft — wo der ſogenannte Hausfleiß — möglich wird, auch wo ſpäter der ländliche Handwerker nicht von ſeinem Gewerbe allein leben kann. In den oſteuropäiſchen und aſiatiſchen Ländern iſt ſo eine große gewerbliche Produktion in den bäuerlichen Familien noch heute. Achtzig Prozent der Bauern in der Umgebung Moskaus verrichten gewerbliche Nebenarbeit. In Mittel- und Weſteuropa hat in unſerem Jahrhundert mit der Zulaſſung der Gewerbe auf dem platten Lande der Handwerksbetrieb als Nebenbeſchäftigung am meiſten, viel mehr als in den Städten zugenommen! Für einen thüringiſchen Bezirk weiſt Hildebrand auf 5577 landwirtſchaftliche 11752 gemiſchte Betriebe nach, und für Württemberg berichtet Rümelin, daß von 117000 landwirtſchaftlichen Familien etwa 99000 irgend einen Nebenerwerb haben. Nach der deutſchen Berufszählung von 1895 haben von den Erwerbsthätigen im Hauptberuf 1 Mill. in der Landwirtſchaft, 1,5 Mill. in der Induſtrie, 3,2 Mill. im ganzen Nebenberufe, und damit iſt ihre Zahl entfernt nicht vollſtändig erfaßt. Von den deutſchen Müllern haben 87, den Brauern 74, den Grobſchmieden 70, den Stell- machern 66, den Maurern und Zimmerleuten 61, den Bäckern 52 % einen Nebenberuf.
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Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
118. Die Scheidung von Landbau und Gewerbe. Die landwirt-
ſchaftliche und gewerbliche Arbeitsteilung. Einzelne Stämme ſind ſeit urdenk-
lichen Zeiten je nach Raſſe, Klima und Boden, nach Wohnſitzen, nach Flora und Fauna
ihres Landes bloße Jäger, bloße Fiſcher oder bloße Viehzüchter, bloße Bananen- oder
Maiseſſer geblieben, haben ihre agrariſche Wirtſchaft nicht zu der vielſeitigen Geſtalt
ausgebildet wie die Indogermanen und Semiten, teilweiſe auch andere Raſſen in den
gemäßigten Zonen mit ihrer Verbindung von Ackerbau, Viehzucht, Forſtnutzung und
mancherlei Nebengewerben. Wir haben dieſe auf Eigenproduktion gerichtete Haus- und
Familienwirtſchaft ſchon im Zuſammenhange der Geſchichte der Technik (S. 204—205),
dann für ſich geſchildert (S. 239—244), dabei auch die Arbeitsteilung dargelegt, die
ſie beſonders in ihrer patriarchaliſchen Form in den höheren Kreiſen der Geſellſchaft
ausbildete. Die antike Familie mit Hunderten von Sklaven, die mittelalterlich grund-
herrliche Fronhof-, Kloſter-, Abtei-, Fürſtenwirtſchaft iſt ein hauswirtſchaftlicher Groß-
betrieb mit einer erheblichen Zahl Hausämter für Stall-, Kriegsrüſtung, für Vorrats-
haltung in der Kammer, für Küche und Keller, mit einer Anzahl Werkſtätten und
techniſchen unfreien Arbeitern. In den großen Patricierhäuſern, großen Gutswirtſchaften,
fürſtlichen Haushaltungen dauert bis heute eine ſolche weitgehende Arbeitsteilung fort.
In dem Haushalt des Sultan Abdul Azzis waren in unſeren Tagen noch 6124 Perſonen
arbeitsteilig beſchäftigt, 359 allein für den Küchendienſt.
Daß im übrigen ſeit Jahrhunderten dieſe ältere große Hauswirtſchaft ſich auflöſte,
daß dieſe Auflöſung ſich durch Ausſcheidung der gewerblichen Betriebe, durch Ver-
wandlung bisheriger arbeitsteiliger Hausbeamten und Diener in ſelbſtändige Handwerker
und Berufe vollzog, haben wir bei Beſprechung der neueren Familie (S. 245—246)
ebenfalls ſchon dargeſtellt, brauchen das dort Geſagte nicht zu wiederholen. Es iſt die
große Scheidung, welche heute Landwirtſchaft und Gewerbe, in gewiſſem Sinne auch
Stadt und Land als beſondere Produktionszweige, geſellſchaftliche und wirtſchaftliche
Gruppen mit ihrer Eigenart, ihren Sonderintereſſen erzeugt hat. Die heutige komplizierte
volkswirtſchaftliche Organiſation hat ihren Hauptzweck darin, durch Handel, Markt und
Verkehr dieſe zwei Hälften doch in rechte Verbindung, zu glattem Zuſammenwirken
zu bringen.
Der Scheidungsprozeß zwiſchen den zwei Gebieten iſt aber auch heute noch lange
kein vollſtändiger und wird es nie werden; die Scheidung iſt ja nicht Selbſtzweck,
ſondern ein Mittel, das nur dort ſich einſtellt, wo die Produktion dadurch erleichtert,
verbeſſert wird.
Sie kann ſich nicht einſtellen, wo der Verkehr fehlt: der amerikaniſche Farmer,
der alpine Hofbauer, der ſchwediſche Bauer iſt heute noch zugleich Jäger, Baumeiſter,
Tiſchler, Backſteinbrenner, Weber, Gerber und ſonſt noch einiges. Sie vollzieht ſich
aber auch da nicht, wo der kleine Bauer nicht allein recht von ſeiner Ackerſtelle leben
kann, wo ein gewiſſer Abſatz von gewerblichen Produkten der Hauswirtſchaft — wo der
ſogenannte Hausfleiß — möglich wird, auch wo ſpäter der ländliche Handwerker nicht von
ſeinem Gewerbe allein leben kann. In den oſteuropäiſchen und aſiatiſchen Ländern iſt ſo
eine große gewerbliche Produktion in den bäuerlichen Familien noch heute. Achtzig Prozent
der Bauern in der Umgebung Moskaus verrichten gewerbliche Nebenarbeit. In Mittel-
und Weſteuropa hat in unſerem Jahrhundert mit der Zulaſſung der Gewerbe auf dem
platten Lande der Handwerksbetrieb als Nebenbeſchäftigung am meiſten, viel mehr als in
den Städten zugenommen! Für einen thüringiſchen Bezirk weiſt Hildebrand auf 5577
landwirtſchaftliche 11752 gemiſchte Betriebe nach, und für Württemberg berichtet Rümelin,
daß von 117000 landwirtſchaftlichen Familien etwa 99000 irgend einen Nebenerwerb
haben. Nach der deutſchen Berufszählung von 1895 haben von den Erwerbsthätigen im
Hauptberuf 1 Mill. in der Landwirtſchaft, 1,5 Mill. in der Induſtrie, 3,2 Mill. im
ganzen Nebenberufe, und damit iſt ihre Zahl entfernt nicht vollſtändig erfaßt. Von
den deutſchen Müllern haben 87, den Brauern 74, den Grobſchmieden 70, den Stell-
machern 66, den Maurern und Zimmerleuten 61, den Bäckern 52 % einen Nebenberuf.
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/362>, abgerufen am 22.11.2024.
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