Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Stadt und Stadtbezirk im Altertum. Spiele lockten. Aus der großen Zahl kleiner und mittlerer erwuchsen nun manche zuGroßstädten, die einen reineren Städtetypus darstellten als einst die älteren asiatischen und griechischen Städte: es waren Mittelpunkte der politischen Herrschaft großer Welt- reiche, des damaligen Welthandels, der Administration großer Provinzen. Rom ist zur Zeit vor Christi Geburt nach Beloch auf etwa 800000, Karthago nach Jung in der Kaiserzeit auf 700000 zu schätzen; Mailand, Kapua, Tarent, Konstantinopel waren ebenfalls Großstädte; das alte Trier wird auf 50--60000 Seelen geschätzt. Teilweise verödete das platte Land; die Dörfer waren mannigfach in größere Hof- Es war eine ungesunde städtische Anhäufung, eine unglückliche, viel schlimmere Eine andere, bessere Errungenschaft der spätrömischen kaiserlichen Verwaltung war 96. Die mitteleuropäische Siedlungsweise der neueren Völker Eine Erörterung der Nachwirkung der älteren Siedlung in Italien, den Alpen, 17*
Stadt und Stadtbezirk im Altertum. Spiele lockten. Aus der großen Zahl kleiner und mittlerer erwuchſen nun manche zuGroßſtädten, die einen reineren Städtetypus darſtellten als einſt die älteren aſiatiſchen und griechiſchen Städte: es waren Mittelpunkte der politiſchen Herrſchaft großer Welt- reiche, des damaligen Welthandels, der Adminiſtration großer Provinzen. Rom iſt zur Zeit vor Chriſti Geburt nach Beloch auf etwa 800000, Karthago nach Jung in der Kaiſerzeit auf 700000 zu ſchätzen; Mailand, Kapua, Tarent, Konſtantinopel waren ebenfalls Großſtädte; das alte Trier wird auf 50—60000 Seelen geſchätzt. Teilweiſe verödete das platte Land; die Dörfer waren mannigfach in größere Hof- Es war eine ungeſunde ſtädtiſche Anhäufung, eine unglückliche, viel ſchlimmere Eine andere, beſſere Errungenſchaft der ſpätrömiſchen kaiſerlichen Verwaltung war 96. Die mitteleuropäiſche Siedlungsweiſe der neueren Völker Eine Erörterung der Nachwirkung der älteren Siedlung in Italien, den Alpen, 17*
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Stadt und Stadtbezirk im Altertum.
Spiele lockten. Aus der großen Zahl kleiner und mittlerer erwuchſen nun manche zu
Großſtädten, die einen reineren Städtetypus darſtellten als einſt die älteren aſiatiſchen
und griechiſchen Städte: es waren Mittelpunkte der politiſchen Herrſchaft großer Welt-
reiche, des damaligen Welthandels, der Adminiſtration großer Provinzen. Rom iſt zur
Zeit vor Chriſti Geburt nach Beloch auf etwa 800000, Karthago nach Jung in der
Kaiſerzeit auf 700000 zu ſchätzen; Mailand, Kapua, Tarent, Konſtantinopel waren
ebenfalls Großſtädte; das alte Trier wird auf 50—60000 Seelen geſchätzt.
Teilweiſe verödete das platte Land; die Dörfer waren mannigfach in größere Hof-
güter verwandelt; die Latifundien erzeugten aber keine allgemeine Großgutswirtſchaft,
ſondern einzelne Höfe (villae) mit etwa 80—100 ha. Der Ruin der Kleinbauern durch
politiſche Urſachen, durch den Kriegsdienſt, die Überſchuldung, die überſeeiſche Getreide-
konkurrenz trieb die Verarmten vielfach in die Städte. Und das iſt nun das Eigen-
tümliche der ſpätgriechiſchen und wohl noch mehr der ſpätrömiſchen Großſtädte, zumal
Roms, daß ihr Wachstum zwar nicht mehr ſo überwiegend auf dem kriegeriſchen und
adminiſtrativen Bedürfnis, aber auch nicht ſo, wie in der Neuzeit, auf wirtſchaftlicher
Zweckmäßigkeit beruhte; natürlich hatte der Verkehr und die Induſtrie, die der konzen-
trierten Arbeitskräfte bedürfen — und zwar damals noch mehr als heute, weil die
Maſchinen fehlten —, weſentlich mit zur Vergrößerung einzelner Städte, z. B. Alexan-
drias, gewirkt. Aber die Hunderttauſende, welche den Hauptteil der römiſchen Stadt-
bevölkerung ausmachten, waren doch hauptſächlich Sklaven und proletariſche Klienten
der Millionäre, verarmte Landleute, bettelhafte Abenteurer und Almoſenempfänger; alles
drängte nach Rom und Konſtantinopel, wo man Getreideſpenden erhalten (im Jahre
46 in Rom 320000 Köpfe) und glänzende Spiele umſonſt ſehen, Kurzweil und Zer-
ſtreuung aller Art haben konnte. Die verlumpten und verliederlichten Exiſtenzen machten
mit den Sklaven in dieſen Großſtädten ſicher zeitweiſe über die Hälfte, wenn nicht drei
Viertel der Volksmenge aus.
Es war eine ungeſunde ſtädtiſche Anhäufung, eine unglückliche, viel ſchlimmere
Landflucht als heute. Die Vorliebe aber für ſtädtiſches Leben und Wohnen iſt ſeither
in vielen Teilen der Mittelmeerlande gleichſam erblich geblieben. In Sicilien, das ſo
wenig Gewerbe hat, wohnen noch heute viel mehr Menſchen in Städten als in manchen
unſerer hochentwickelten Induſtrieſtaaten: 68 %, während 1875 in Belgien 67, in
Sachſen 52, in Frankreich 42 % darauf fielen.
Eine andere, beſſere Errungenſchaft der ſpätrömiſchen kaiſerlichen Verwaltung war
es, daß ſich endlich die Formen der Verfaſſung, der Verwaltung und des Rechts aus-
gebildet hatten, auf Grund deren ein geordnetes Zuſammenwirken einer ſtarken centra-
liſtiſchen Reichsgewalt mit zahlreichen relativ ſelbſtändigen Stadtbezirken möglich wurde.
An das Erbe dieſer Traditionen konnten die germaniſchen Staaten anknüpfen, ſie
brauchten eine Staatsgewalt nicht erſt wieder aus der Stadt- oder Kantonverwaltung
heraus zu entwickeln.
96. Die mitteleuropäiſche Siedlungsweiſe der neueren Völker
auf dem platten Lande. Die Siedlungs- und Wohnweiſe in den Staaten nach
der Völkerwanderung iſt teils (und zwar hauptſächlich in Südeuropa) bedingt durch die
Nachwirkungen der älteren Staats-, Kultur- und Wirtſchaftszuſtände, teils durch die
Lebens- und Wirtſchaftsweiſe der keltiſchen, germaniſchen und ſlaviſchen Völker, welche
in der Hauptſache dieſe Staaten begründeten oder beherrſchten. Die Kelten hatten ſchon
einen etwas entwickelteren Ackerbau, die Germanen und Slaven waren in kriegeriſchem
Vordringen begriffen, hatten nur vorübergehend feſte Wohnſitze, lebten mehr von ihrer
Viehwirtſchaft als ihrem Ackerbau. Bei allen drei Völkergruppen wird noch weſentlich
die alte indogermaniſche Gruppen- und Dorfſiedlung in der Zeit ihres Eindringens nach
Europa vorhanden geweſen ſein.
Eine Erörterung der Nachwirkung der älteren Siedlung in Italien, den Alpen,
in Gallien würde uns hier zu weit führen. Nach Meitzens neueſten Forſchungen iſt ſie
nördlich der Alpen geringer als man bisher oft annahm. Für Mitteleuropa bleibt die
Hauptfrage, wie die Seßhaftigkeit der Kelten und Germanen ſich vollzogen habe. Über
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