Ausschließliche Dorfsiedlung der älteren Zeit. Antike Städtebildung.
hängt von Natur- und historischen Verhältnissen, von Frieden und Kampf, von Stammes- organisation und Schicksal, von Bautechnik und Baumaterialien, auch von den kleinen Verschiedenheiten des wirtschaftlichen Lebens ab. Die einzelnen Dörfer zeigen unter sich keine erhebliche Verschiedenheit, keine Eigentümlichkeit.
Auch die höchststehenden Rassen, vor allem die indogermanischen Völker, haben nach allem, was wir von ihnen wissen, in ihrer älteren Zeit ein solch' überwiegendes Wohnen und Leben in kleinen Dörfern gehabt. Eine Anzahl Dörfer zusammen bildeten Gaue, Hundert- schaften oder wie die Gruppen hießen; mehrere solcher den Stamm, der sich meist mit einem breiten, unbebauten Grenzgebiete umgab, das ihn von anderen Stämmen und Völkern trennte und schützte. Die Dörfer und Gaue lagen im ganzen nicht so weit auseinander, daß man sich nicht sehen, die Volksversammlung besuchen konnte. Gallien hatte zur Zeit Cäsars 300--400 "populi", während das heutige Frankreich 87 Departements und 362 Arondissements zählt. Das letztere mit seinen 26 Geviertmeilen (1466 Geviert- kilometern) dürfte also dem geographischen Gebiete eines damaligen "populus" entsprechen. Die Völkerschaft würde (bei 500 Seelen pro Geviertmeile) also etwa 13000 Seelen gezählt haben; sie würde 130 Ortschaften zu 100, 65 zu 200 Seelen umfaßt haben. Gewiß eine rohe Schätzung, aber wenigstens eine konkrete Vorstellung!
95. Die antike Städtebildung haben wir in unserer Anschauung anzu- knüpfen an Völker von 10000--200000 Seelen auf je etwa 1000--20000 Geviert- kilometern, die besonders begabt, technisch und kriegerisch vorangeschritten, im ganzen noch als einheitliche Volksgemeinden sich fühlten; die lokalen dorf-, die sippenschaftlichen Verbände hatten als Teile derselben eben durch die zusammenfassende Entwickelung der Gesamtvolksgemeinde es noch nicht zu ausgebildetem Sonderleben gebracht. War die Ursache einer solchen Volks- und Staatsverfassung wesentlich politisch und kriegerisch, drückte sie sich in einer starken Königsgewalt oder Aristokratie, in einer Priester- oder Kriegerherrschaft aus, so fand die Centralisation und kriegerische Selbstbehauptung baulich und wirtschaftlich hauptsächlich ihren Ausdruck in der Stadtgründung. In dem bunten Kampfe der kleinen Völker und Kantone unter einander kamen nur die obenauf, die es verstanden, den längst in der Regel als Zufluchtsort befestigten, als Versammlungs- ort, Marktplatz und Truppenaushebungsort, sowie als Opfer- und Tempelstätte dienenden Mittelpunkt der Volksgemeinde zu einer starken, belagerungsfähigen Festung, zu einem größeren, die Regierung und Verteidigung erleichternden Wohnplatze zu erheben. Zuerst die Westasiaten und Ägypter, dann die Griechen und Römer kamen so frühe zu einem größeren stadtartigen, befestigten Mittelpunkte für jede Volksgemeinde, der bei günstiger Verkehrslage und in überreichen Tiefländern oft sehr großen Umfang annahm; Babylon hatte zu Nebukadnezars Zeit eine Ringmauer von 8 Meilen Umfang, fast unübersteig- lich, 350' hoch, 87' dick; das gab einen ungeheuren Wohn- und Lagerplatz, Weiden und Äcker für ein ganzes Volk einschließend, größer als die Pariser Enceinte, die 1830 bis 1840 gebaut wurde. Die Griechen haben schon zu Homers Zeit da Städte, wo politische Macht sich gesammelt. Und waren die meisten hellenischen Städte vor Alexanders Zeiten nach unseren Vorstellungen klein, das Verlassen der alten Siedlung in Komen, d. h. Dorfschaften, das Zusammenbauen, der sogenannte Synoikismos galt doch früh als das Zeichen der höheren griechischen gegenüber der barbarischen Kultur. Von Theseus berichtet die Sage, er habe die Räte der übrigen Orte Attikas aufgehoben und das ganze Gebiet unter den Rat Athens gestellt. Alle Wohlhabenden, Einfluß- reichen mußten, wo der Synoikismos sich vollzogen, nun dauernd oder zeitweise in der Hauptstadt leben. Selbst von den im Gebirge lebenden, der Stadtverfassung wider- strebenden Arkadern berichtet Pausanias, man habe 40 Komen zu der Stadt Megalo- polis vereinigt. Alle höhere politische und wirtschaftliche Kultur erschien eben den Griechen nur möglich mit Hülfe einer einheitlichen, centralisierten Stadtgemeinde, in der alle Glieder der Volksgemeinde Bürger waren. Wo die Schöpfung gelang, barg die Stadt vielfach mit der Zeit einen übermäßigen Teil des Volkes dauernd in sich. Die dem griechischen Heimatlande an Umfang und Bevölkerung gleichkommenden grie- chischen Kolonialgebiete waren von Haus aus absichtliche Städtegründungen mit mäßigem,
Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 17
Ausſchließliche Dorfſiedlung der älteren Zeit. Antike Städtebildung.
hängt von Natur- und hiſtoriſchen Verhältniſſen, von Frieden und Kampf, von Stammes- organiſation und Schickſal, von Bautechnik und Baumaterialien, auch von den kleinen Verſchiedenheiten des wirtſchaftlichen Lebens ab. Die einzelnen Dörfer zeigen unter ſich keine erhebliche Verſchiedenheit, keine Eigentümlichkeit.
Auch die höchſtſtehenden Raſſen, vor allem die indogermaniſchen Völker, haben nach allem, was wir von ihnen wiſſen, in ihrer älteren Zeit ein ſolch’ überwiegendes Wohnen und Leben in kleinen Dörfern gehabt. Eine Anzahl Dörfer zuſammen bildeten Gaue, Hundert- ſchaften oder wie die Gruppen hießen; mehrere ſolcher den Stamm, der ſich meiſt mit einem breiten, unbebauten Grenzgebiete umgab, das ihn von anderen Stämmen und Völkern trennte und ſchützte. Die Dörfer und Gaue lagen im ganzen nicht ſo weit auseinander, daß man ſich nicht ſehen, die Volksverſammlung beſuchen konnte. Gallien hatte zur Zeit Cäſars 300—400 „populi“, während das heutige Frankreich 87 Departements und 362 Arondiſſements zählt. Das letztere mit ſeinen 26 Geviertmeilen (1466 Geviert- kilometern) dürfte alſo dem geographiſchen Gebiete eines damaligen „populus“ entſprechen. Die Völkerſchaft würde (bei 500 Seelen pro Geviertmeile) alſo etwa 13000 Seelen gezählt haben; ſie würde 130 Ortſchaften zu 100, 65 zu 200 Seelen umfaßt haben. Gewiß eine rohe Schätzung, aber wenigſtens eine konkrete Vorſtellung!
95. Die antike Städtebildung haben wir in unſerer Anſchauung anzu- knüpfen an Völker von 10000—200000 Seelen auf je etwa 1000—20000 Geviert- kilometern, die beſonders begabt, techniſch und kriegeriſch vorangeſchritten, im ganzen noch als einheitliche Volksgemeinden ſich fühlten; die lokalen dorf-, die ſippenſchaftlichen Verbände hatten als Teile derſelben eben durch die zuſammenfaſſende Entwickelung der Geſamtvolksgemeinde es noch nicht zu ausgebildetem Sonderleben gebracht. War die Urſache einer ſolchen Volks- und Staatsverfaſſung weſentlich politiſch und kriegeriſch, drückte ſie ſich in einer ſtarken Königsgewalt oder Ariſtokratie, in einer Prieſter- oder Kriegerherrſchaft aus, ſo fand die Centraliſation und kriegeriſche Selbſtbehauptung baulich und wirtſchaftlich hauptſächlich ihren Ausdruck in der Stadtgründung. In dem bunten Kampfe der kleinen Völker und Kantone unter einander kamen nur die obenauf, die es verſtanden, den längſt in der Regel als Zufluchtsort befeſtigten, als Verſammlungs- ort, Marktplatz und Truppenaushebungsort, ſowie als Opfer- und Tempelſtätte dienenden Mittelpunkt der Volksgemeinde zu einer ſtarken, belagerungsfähigen Feſtung, zu einem größeren, die Regierung und Verteidigung erleichternden Wohnplatze zu erheben. Zuerſt die Weſtaſiaten und Ägypter, dann die Griechen und Römer kamen ſo frühe zu einem größeren ſtadtartigen, befeſtigten Mittelpunkte für jede Volksgemeinde, der bei günſtiger Verkehrslage und in überreichen Tiefländern oft ſehr großen Umfang annahm; Babylon hatte zu Nebukadnezars Zeit eine Ringmauer von 8 Meilen Umfang, faſt unüberſteig- lich, 350′ hoch, 87′ dick; das gab einen ungeheuren Wohn- und Lagerplatz, Weiden und Äcker für ein ganzes Volk einſchließend, größer als die Pariſer Enceinte, die 1830 bis 1840 gebaut wurde. Die Griechen haben ſchon zu Homers Zeit da Städte, wo politiſche Macht ſich geſammelt. Und waren die meiſten helleniſchen Städte vor Alexanders Zeiten nach unſeren Vorſtellungen klein, das Verlaſſen der alten Siedlung in Komen, d. h. Dorfſchaften, das Zuſammenbauen, der ſogenannte Synoikismos galt doch früh als das Zeichen der höheren griechiſchen gegenüber der barbariſchen Kultur. Von Theſeus berichtet die Sage, er habe die Räte der übrigen Orte Attikas aufgehoben und das ganze Gebiet unter den Rat Athens geſtellt. Alle Wohlhabenden, Einfluß- reichen mußten, wo der Synoikismos ſich vollzogen, nun dauernd oder zeitweiſe in der Hauptſtadt leben. Selbſt von den im Gebirge lebenden, der Stadtverfaſſung wider- ſtrebenden Arkadern berichtet Pauſanias, man habe 40 Komen zu der Stadt Megalo- polis vereinigt. Alle höhere politiſche und wirtſchaftliche Kultur erſchien eben den Griechen nur möglich mit Hülfe einer einheitlichen, centraliſierten Stadtgemeinde, in der alle Glieder der Volksgemeinde Bürger waren. Wo die Schöpfung gelang, barg die Stadt vielfach mit der Zeit einen übermäßigen Teil des Volkes dauernd in ſich. Die dem griechiſchen Heimatlande an Umfang und Bevölkerung gleichkommenden grie- chiſchen Kolonialgebiete waren von Haus aus abſichtliche Städtegründungen mit mäßigem,
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 17
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[257/0273]
Ausſchließliche Dorfſiedlung der älteren Zeit. Antike Städtebildung.
hängt von Natur- und hiſtoriſchen Verhältniſſen, von Frieden und Kampf, von Stammes-
organiſation und Schickſal, von Bautechnik und Baumaterialien, auch von den kleinen
Verſchiedenheiten des wirtſchaftlichen Lebens ab. Die einzelnen Dörfer zeigen unter ſich
keine erhebliche Verſchiedenheit, keine Eigentümlichkeit.
Auch die höchſtſtehenden Raſſen, vor allem die indogermaniſchen Völker, haben nach
allem, was wir von ihnen wiſſen, in ihrer älteren Zeit ein ſolch’ überwiegendes Wohnen
und Leben in kleinen Dörfern gehabt. Eine Anzahl Dörfer zuſammen bildeten Gaue, Hundert-
ſchaften oder wie die Gruppen hießen; mehrere ſolcher den Stamm, der ſich meiſt mit einem
breiten, unbebauten Grenzgebiete umgab, das ihn von anderen Stämmen und Völkern
trennte und ſchützte. Die Dörfer und Gaue lagen im ganzen nicht ſo weit auseinander,
daß man ſich nicht ſehen, die Volksverſammlung beſuchen konnte. Gallien hatte zur Zeit
Cäſars 300—400 „populi“, während das heutige Frankreich 87 Departements und
362 Arondiſſements zählt. Das letztere mit ſeinen 26 Geviertmeilen (1466 Geviert-
kilometern) dürfte alſo dem geographiſchen Gebiete eines damaligen „populus“ entſprechen.
Die Völkerſchaft würde (bei 500 Seelen pro Geviertmeile) alſo etwa 13000 Seelen
gezählt haben; ſie würde 130 Ortſchaften zu 100, 65 zu 200 Seelen umfaßt haben.
Gewiß eine rohe Schätzung, aber wenigſtens eine konkrete Vorſtellung!
95. Die antike Städtebildung haben wir in unſerer Anſchauung anzu-
knüpfen an Völker von 10000—200000 Seelen auf je etwa 1000—20000 Geviert-
kilometern, die beſonders begabt, techniſch und kriegeriſch vorangeſchritten, im ganzen
noch als einheitliche Volksgemeinden ſich fühlten; die lokalen dorf-, die ſippenſchaftlichen
Verbände hatten als Teile derſelben eben durch die zuſammenfaſſende Entwickelung der
Geſamtvolksgemeinde es noch nicht zu ausgebildetem Sonderleben gebracht. War die
Urſache einer ſolchen Volks- und Staatsverfaſſung weſentlich politiſch und kriegeriſch,
drückte ſie ſich in einer ſtarken Königsgewalt oder Ariſtokratie, in einer Prieſter- oder
Kriegerherrſchaft aus, ſo fand die Centraliſation und kriegeriſche Selbſtbehauptung baulich
und wirtſchaftlich hauptſächlich ihren Ausdruck in der Stadtgründung. In dem bunten
Kampfe der kleinen Völker und Kantone unter einander kamen nur die obenauf, die
es verſtanden, den längſt in der Regel als Zufluchtsort befeſtigten, als Verſammlungs-
ort, Marktplatz und Truppenaushebungsort, ſowie als Opfer- und Tempelſtätte dienenden
Mittelpunkt der Volksgemeinde zu einer ſtarken, belagerungsfähigen Feſtung, zu einem
größeren, die Regierung und Verteidigung erleichternden Wohnplatze zu erheben. Zuerſt
die Weſtaſiaten und Ägypter, dann die Griechen und Römer kamen ſo frühe zu einem
größeren ſtadtartigen, befeſtigten Mittelpunkte für jede Volksgemeinde, der bei günſtiger
Verkehrslage und in überreichen Tiefländern oft ſehr großen Umfang annahm; Babylon
hatte zu Nebukadnezars Zeit eine Ringmauer von 8 Meilen Umfang, faſt unüberſteig-
lich, 350′ hoch, 87′ dick; das gab einen ungeheuren Wohn- und Lagerplatz, Weiden
und Äcker für ein ganzes Volk einſchließend, größer als die Pariſer Enceinte, die 1830
bis 1840 gebaut wurde. Die Griechen haben ſchon zu Homers Zeit da Städte, wo
politiſche Macht ſich geſammelt. Und waren die meiſten helleniſchen Städte vor
Alexanders Zeiten nach unſeren Vorſtellungen klein, das Verlaſſen der alten Siedlung
in Komen, d. h. Dorfſchaften, das Zuſammenbauen, der ſogenannte Synoikismos galt
doch früh als das Zeichen der höheren griechiſchen gegenüber der barbariſchen Kultur.
Von Theſeus berichtet die Sage, er habe die Räte der übrigen Orte Attikas aufgehoben
und das ganze Gebiet unter den Rat Athens geſtellt. Alle Wohlhabenden, Einfluß-
reichen mußten, wo der Synoikismos ſich vollzogen, nun dauernd oder zeitweiſe in der
Hauptſtadt leben. Selbſt von den im Gebirge lebenden, der Stadtverfaſſung wider-
ſtrebenden Arkadern berichtet Pauſanias, man habe 40 Komen zu der Stadt Megalo-
polis vereinigt. Alle höhere politiſche und wirtſchaftliche Kultur erſchien eben den
Griechen nur möglich mit Hülfe einer einheitlichen, centraliſierten Stadtgemeinde, in
der alle Glieder der Volksgemeinde Bürger waren. Wo die Schöpfung gelang, barg
die Stadt vielfach mit der Zeit einen übermäßigen Teil des Volkes dauernd in ſich.
Die dem griechiſchen Heimatlande an Umfang und Bevölkerung gleichkommenden grie-
chiſchen Kolonialgebiete waren von Haus aus abſichtliche Städtegründungen mit mäßigem,
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 17
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/273>, abgerufen am 16.07.2024.
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