Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Charaktere als herdenartige Menschen erzeugten. Wir kommen darauf gleich zurück, wenn wir die Sippenverfassung in ihrer älteren Gestalt der Muttersippen und in ihrer Umbildung zu den Vatersippen besprechen.
Diese Verfassung konnte aus der Überlieferung älterer Zeit nicht klar erkannt werden; aber daß sie noch in den letzten hundert Jahren in Amerika, Afrika, Australien, Asien, Polynesien, bei den Malaien vielfach, oft freilich schon halb in Auflösung, sehr verbreitet war, ist heute durch Reisende und Sprachforscher sicher erwiesen. Ebenso daß sie da, wo die patriarchalische Familie einmal Fuß gefaßt hat, diese nie wieder ablöste. Die heute noch offene Kontroverse ist, ob sie überall dieser vorausgegangen sei. Dies als unbedingt anzunehmen, geht wohl zu weit. Die ältere Vatergewalt kann da und dort direkt in die eigentlich patriarchalische übergegangen sein. Aber wahrscheinlich ist, daß die Völker, welche eine Epoche des Hackbaues durchmachten, fast alle derartige, freilich im einzelnen vielfach modifizierte Einrichtungen hatten.
89. Die Sippen- oder Gentilverfassung haben wir in ihrer Entstehung eben kennen gelernt. Ihre im ganzen ältere, uterine Form fällt mit dem Mutterrechte zeitlich und örtlich zusammen, ihre spätere Form, die Vatersippe, ist in derselben Zeit entstanden wie das Patriarchat, das sie aber überlebt und aufzulösen geholfen hat. Wir erwähnten schon, daß die selbständige Entstehung von Vatersippen denkbar sei. Das Wahrscheinlichere bleibt mir, daß sie hauptsächlich als Nachbildung der Muttersippen entstanden, weil die Sippenverfassung aus Mutter- und Geschwistergruppen viel leichter erklärlich ist. Stämme mit Vaterrecht, mit patriarchalischer Familienverfassung enthielten in sich größere Sonderinteressen, größere Besitzunterschiede, waren differenzierter nach allen Seiten; sie konnten viel schwieriger von selbst zu brüderlichen Genossenschaften kommen; die Söhne und Enkel der verschiedensten, oft blutsfremden Frauen konnten zur Zeit des Vaterrechtes viel schwerer sich als Brüder behandeln, auch wenn ihre Väter verwandt waren, als die Söhne blutsverwandter Mütter zur Zeit des Mutterrechtes. Wo aber die Sippenverfassung hergebracht und Voraussetzung aller Stammeseinrichtungen war, konnte leicht beim Übergang zum Vaterrecht teils von selbst, teils durch Stammes- anordnung die Vatersippe, wenn auch von Anbeginn an in etwas abgeschwächter Ge- stalt, entstehen.
Alle Sippenbildung ist in erster Linie das Ergebnis natürlicher Blutsverwandt- schaft, geht aus den Gefühlen und Gewohnheiten des Blutszusammenhanges hervor; aber sie ist daneben eine Folge konventioneller Einrichtung: der Namengebung, der Benennung gewisser Verwandter mit demselben Namen, des Bedürfnisses, die Verwandten zu gruppieren, ein Verwandtschaftssystem aufzustellen; und daran wieder reiht sich die Tendenz, gewisse Verbote des Geschlechtsverkehrs an diese Einteilung und diese Namen anzuknüpfen. Die Auffassung der Verwandtschaft mit ihren Namen und Einteilungen wird unmittelbar zu einer Vorstellung über Abstammung von Göttern, Tieren oder anderen Wesen, sie führt zu gemeinsamen Kulthandlungen, Symbolen, Darbringungen, Festen und in weiterer Linie zu wirtschaftlichen und rechtlichen Einrichtungen. Auf jeder Stufe dieser Ausbildung kann der Entwickelungsprozeß stehen bleiben. Die Sippe ist, je mehr sie Aufgaben übernimmt, desto mehr eine künstlich oder historisch gewordene Institution, keine Natureinrichtung. Sie ist bei gewissen Rassen kümmerlich, bei anderen hoch ausgebildet. Sie erzeugt hier nur Verbote des Geschlechtsverkehrs für verwandte Personen, die zerstreut wohnen, dort ein gemeinsames, geschlossenes Auftreten, Wohnen, ja Wirtschaften. Wo sie blühte, spielte sie eine große Rolle, war sie lange das wichtigste Unterorgan des Stammes.
Die älteren Stämme mit Gentilverfassung zählen bis zu einigen tausend Seelen; aber auch in den späteren Stammesbündnissen und Völkerschaften bis zu 10 und 20000 Seelen treffen wir Sippen; die antiken Völker der Griechen und Römer, auch die Germanen beginnen ihre Geschichte mit noch sehr starken Sippen nach Vaterrecht. Die Mitglieder des Stammes zerfallen in eine Anzahl Sippen in der Weise, daß jedes einer angehören muß, aber auch nur einer angehören darf, daß ohne Sippengenossen- schaft keine Stammeszugehörigkeit denkbar ist. Die Zahl der Sippen ist oft scheinbar
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Charaktere als herdenartige Menſchen erzeugten. Wir kommen darauf gleich zurück, wenn wir die Sippenverfaſſung in ihrer älteren Geſtalt der Mutterſippen und in ihrer Umbildung zu den Vaterſippen beſprechen.
Dieſe Verfaſſung konnte aus der Überlieferung älterer Zeit nicht klar erkannt werden; aber daß ſie noch in den letzten hundert Jahren in Amerika, Afrika, Auſtralien, Aſien, Polyneſien, bei den Malaien vielfach, oft freilich ſchon halb in Auflöſung, ſehr verbreitet war, iſt heute durch Reiſende und Sprachforſcher ſicher erwieſen. Ebenſo daß ſie da, wo die patriarchaliſche Familie einmal Fuß gefaßt hat, dieſe nie wieder ablöſte. Die heute noch offene Kontroverſe iſt, ob ſie überall dieſer vorausgegangen ſei. Dies als unbedingt anzunehmen, geht wohl zu weit. Die ältere Vatergewalt kann da und dort direkt in die eigentlich patriarchaliſche übergegangen ſein. Aber wahrſcheinlich iſt, daß die Völker, welche eine Epoche des Hackbaues durchmachten, faſt alle derartige, freilich im einzelnen vielfach modifizierte Einrichtungen hatten.
89. Die Sippen- oder Gentilverfaſſung haben wir in ihrer Entſtehung eben kennen gelernt. Ihre im ganzen ältere, uterine Form fällt mit dem Mutterrechte zeitlich und örtlich zuſammen, ihre ſpätere Form, die Vaterſippe, iſt in derſelben Zeit entſtanden wie das Patriarchat, das ſie aber überlebt und aufzulöſen geholfen hat. Wir erwähnten ſchon, daß die ſelbſtändige Entſtehung von Vaterſippen denkbar ſei. Das Wahrſcheinlichere bleibt mir, daß ſie hauptſächlich als Nachbildung der Mutterſippen entſtanden, weil die Sippenverfaſſung aus Mutter- und Geſchwiſtergruppen viel leichter erklärlich iſt. Stämme mit Vaterrecht, mit patriarchaliſcher Familienverfaſſung enthielten in ſich größere Sonderintereſſen, größere Beſitzunterſchiede, waren differenzierter nach allen Seiten; ſie konnten viel ſchwieriger von ſelbſt zu brüderlichen Genoſſenſchaften kommen; die Söhne und Enkel der verſchiedenſten, oft blutsfremden Frauen konnten zur Zeit des Vaterrechtes viel ſchwerer ſich als Brüder behandeln, auch wenn ihre Väter verwandt waren, als die Söhne blutsverwandter Mütter zur Zeit des Mutterrechtes. Wo aber die Sippenverfaſſung hergebracht und Vorausſetzung aller Stammeseinrichtungen war, konnte leicht beim Übergang zum Vaterrecht teils von ſelbſt, teils durch Stammes- anordnung die Vaterſippe, wenn auch von Anbeginn an in etwas abgeſchwächter Ge- ſtalt, entſtehen.
Alle Sippenbildung iſt in erſter Linie das Ergebnis natürlicher Blutsverwandt- ſchaft, geht aus den Gefühlen und Gewohnheiten des Blutszuſammenhanges hervor; aber ſie iſt daneben eine Folge konventioneller Einrichtung: der Namengebung, der Benennung gewiſſer Verwandter mit demſelben Namen, des Bedürfniſſes, die Verwandten zu gruppieren, ein Verwandtſchaftsſyſtem aufzuſtellen; und daran wieder reiht ſich die Tendenz, gewiſſe Verbote des Geſchlechtsverkehrs an dieſe Einteilung und dieſe Namen anzuknüpfen. Die Auffaſſung der Verwandtſchaft mit ihren Namen und Einteilungen wird unmittelbar zu einer Vorſtellung über Abſtammung von Göttern, Tieren oder anderen Weſen, ſie führt zu gemeinſamen Kulthandlungen, Symbolen, Darbringungen, Feſten und in weiterer Linie zu wirtſchaftlichen und rechtlichen Einrichtungen. Auf jeder Stufe dieſer Ausbildung kann der Entwickelungsprozeß ſtehen bleiben. Die Sippe iſt, je mehr ſie Aufgaben übernimmt, deſto mehr eine künſtlich oder hiſtoriſch gewordene Inſtitution, keine Natureinrichtung. Sie iſt bei gewiſſen Raſſen kümmerlich, bei anderen hoch ausgebildet. Sie erzeugt hier nur Verbote des Geſchlechtsverkehrs für verwandte Perſonen, die zerſtreut wohnen, dort ein gemeinſames, geſchloſſenes Auftreten, Wohnen, ja Wirtſchaften. Wo ſie blühte, ſpielte ſie eine große Rolle, war ſie lange das wichtigſte Unterorgan des Stammes.
Die älteren Stämme mit Gentilverfaſſung zählen bis zu einigen tauſend Seelen; aber auch in den ſpäteren Stammesbündniſſen und Völkerſchaften bis zu 10 und 20000 Seelen treffen wir Sippen; die antiken Völker der Griechen und Römer, auch die Germanen beginnen ihre Geſchichte mit noch ſehr ſtarken Sippen nach Vaterrecht. Die Mitglieder des Stammes zerfallen in eine Anzahl Sippen in der Weiſe, daß jedes einer angehören muß, aber auch nur einer angehören darf, daß ohne Sippengenoſſen- ſchaft keine Stammeszugehörigkeit denkbar iſt. Die Zahl der Sippen iſt oft ſcheinbar
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Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Charaktere als herdenartige Menſchen erzeugten. Wir kommen darauf gleich zurück,
wenn wir die Sippenverfaſſung in ihrer älteren Geſtalt der Mutterſippen und in ihrer
Umbildung zu den Vaterſippen beſprechen.
Dieſe Verfaſſung konnte aus der Überlieferung älterer Zeit nicht klar erkannt
werden; aber daß ſie noch in den letzten hundert Jahren in Amerika, Afrika, Auſtralien,
Aſien, Polyneſien, bei den Malaien vielfach, oft freilich ſchon halb in Auflöſung, ſehr
verbreitet war, iſt heute durch Reiſende und Sprachforſcher ſicher erwieſen. Ebenſo daß
ſie da, wo die patriarchaliſche Familie einmal Fuß gefaßt hat, dieſe nie wieder ablöſte.
Die heute noch offene Kontroverſe iſt, ob ſie überall dieſer vorausgegangen ſei. Dies
als unbedingt anzunehmen, geht wohl zu weit. Die ältere Vatergewalt kann da und
dort direkt in die eigentlich patriarchaliſche übergegangen ſein. Aber wahrſcheinlich iſt,
daß die Völker, welche eine Epoche des Hackbaues durchmachten, faſt alle derartige,
freilich im einzelnen vielfach modifizierte Einrichtungen hatten.
89. Die Sippen- oder Gentilverfaſſung haben wir in ihrer Entſtehung
eben kennen gelernt. Ihre im ganzen ältere, uterine Form fällt mit dem Mutterrechte
zeitlich und örtlich zuſammen, ihre ſpätere Form, die Vaterſippe, iſt in derſelben Zeit
entſtanden wie das Patriarchat, das ſie aber überlebt und aufzulöſen geholfen hat. Wir
erwähnten ſchon, daß die ſelbſtändige Entſtehung von Vaterſippen denkbar ſei. Das
Wahrſcheinlichere bleibt mir, daß ſie hauptſächlich als Nachbildung der Mutterſippen
entſtanden, weil die Sippenverfaſſung aus Mutter- und Geſchwiſtergruppen viel leichter
erklärlich iſt. Stämme mit Vaterrecht, mit patriarchaliſcher Familienverfaſſung enthielten
in ſich größere Sonderintereſſen, größere Beſitzunterſchiede, waren differenzierter nach allen
Seiten; ſie konnten viel ſchwieriger von ſelbſt zu brüderlichen Genoſſenſchaften kommen;
die Söhne und Enkel der verſchiedenſten, oft blutsfremden Frauen konnten zur Zeit des
Vaterrechtes viel ſchwerer ſich als Brüder behandeln, auch wenn ihre Väter verwandt
waren, als die Söhne blutsverwandter Mütter zur Zeit des Mutterrechtes. Wo aber
die Sippenverfaſſung hergebracht und Vorausſetzung aller Stammeseinrichtungen war,
konnte leicht beim Übergang zum Vaterrecht teils von ſelbſt, teils durch Stammes-
anordnung die Vaterſippe, wenn auch von Anbeginn an in etwas abgeſchwächter Ge-
ſtalt, entſtehen.
Alle Sippenbildung iſt in erſter Linie das Ergebnis natürlicher Blutsverwandt-
ſchaft, geht aus den Gefühlen und Gewohnheiten des Blutszuſammenhanges hervor;
aber ſie iſt daneben eine Folge konventioneller Einrichtung: der Namengebung, der
Benennung gewiſſer Verwandter mit demſelben Namen, des Bedürfniſſes, die Verwandten
zu gruppieren, ein Verwandtſchaftsſyſtem aufzuſtellen; und daran wieder reiht ſich die
Tendenz, gewiſſe Verbote des Geſchlechtsverkehrs an dieſe Einteilung und dieſe Namen
anzuknüpfen. Die Auffaſſung der Verwandtſchaft mit ihren Namen und Einteilungen
wird unmittelbar zu einer Vorſtellung über Abſtammung von Göttern, Tieren oder
anderen Weſen, ſie führt zu gemeinſamen Kulthandlungen, Symbolen, Darbringungen,
Feſten und in weiterer Linie zu wirtſchaftlichen und rechtlichen Einrichtungen. Auf jeder
Stufe dieſer Ausbildung kann der Entwickelungsprozeß ſtehen bleiben. Die Sippe iſt,
je mehr ſie Aufgaben übernimmt, deſto mehr eine künſtlich oder hiſtoriſch gewordene
Inſtitution, keine Natureinrichtung. Sie iſt bei gewiſſen Raſſen kümmerlich, bei anderen
hoch ausgebildet. Sie erzeugt hier nur Verbote des Geſchlechtsverkehrs für verwandte
Perſonen, die zerſtreut wohnen, dort ein gemeinſames, geſchloſſenes Auftreten, Wohnen,
ja Wirtſchaften. Wo ſie blühte, ſpielte ſie eine große Rolle, war ſie lange das wichtigſte
Unterorgan des Stammes.
Die älteren Stämme mit Gentilverfaſſung zählen bis zu einigen tauſend Seelen;
aber auch in den ſpäteren Stammesbündniſſen und Völkerſchaften bis zu 10 und
20000 Seelen treffen wir Sippen; die antiken Völker der Griechen und Römer, auch
die Germanen beginnen ihre Geſchichte mit noch ſehr ſtarken Sippen nach Vaterrecht.
Die Mitglieder des Stammes zerfallen in eine Anzahl Sippen in der Weiſe, daß jedes
einer angehören muß, aber auch nur einer angehören darf, daß ohne Sippengenoſſen-
ſchaft keine Stammeszugehörigkeit denkbar iſt. Die Zahl der Sippen iſt oft ſcheinbar
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/252>, abgerufen am 16.07.2024.
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