Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. 50. Das Ergebnis der neueren Forschung, der heutige Stand- Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den besten neueren volkswirt- Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. 50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Stand- Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den beſten neueren volkswirt- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0138" n="122"/> <fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> <p>50. <hi rendition="#g">Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Stand-<lb/> punkt der Wiſſenſchaft</hi>. Wenn wir fragen, was mit allen dieſen großen Fort-<lb/> ſchritten der Einzelerkenntnis im Gebiete der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erreicht<lb/> ſei, ſo können wir auf der einen Seite mit Hutten rufen, „es iſt eine Luſt zu leben“.<lb/> Unſer Wiſſen iſt außerordentlich gewachſen, in die Tiefe und in die Breite; wir haben<lb/> Methode und Sicherheit in unſere Forſchung gebracht. Wir wollen nicht mehr aus wenigen<lb/> abſtrakten Prämiſſen alle Erſcheinungen erklären und Ideale für alle Zeiten und Völker aus<lb/> ihnen ableiten. Wir ſind uns der Grenzen unſeres geſicherten Wiſſens, der Kompliziertheit<lb/> der Erſcheinungen, der Schwierigkeit der Fragen bewußt; wir ſtecken noch vielfach in<lb/> der Vorbereitung und Materialſammlung; aber trotzdem ſtehen wir mit anderer Klarheit<lb/> als vor 100 und vor 50 Jahren der Gegenwart und der Zukunft gegenüber, gerade<lb/> weil wir ſo viel Genaueres über die Vergangenheit heute wiſſen.</p><lb/> <p>Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im<lb/> einzelnen wiſſen; aber es fehlt all’ dem die Einheit und die Wirkung aufs Leben.<lb/> Streiten nicht, ſagt man, die Parteien und die Klaſſen heute noch mehr auf wirtſchaft-<lb/> lichem und ſocialem Gebiete als in den Tagen A. Smiths und Raus? Erheben ſich<lb/> nicht wieder von vielen Seiten gegen die herrſchenden wiſſenſchaftlichen Autoritäten neue<lb/> Lehren und die alten Schulen in verjüngter Form: das Mancheſtertum iſt noch lange<lb/> nicht ausgeſtorben, gegen die Vertreter der ſocialen Reform erheben ſich mit Macht die<lb/> der Kapital- und Unternehmerintereſſen, wie z. B. Julius Wolf (Socialismus und<lb/> kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung, 1892). Der Socialismus ſcheint vielen noch zu<lb/> wachſen. Unter den führenden Autoritäten der Wiſſenſchaft ſelbſt herrſcht über Methode<lb/> und Reſultate noch ſo viel Streit, daß es ſcheinen könnte, die Sicherheit unſeres Wiſſens<lb/> habe ſich kaum verbeſſert.</p><lb/> <p>Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf<lb/> antworten, daß über die praktiſche Politik der Streit immer vorhanden war und nicht<lb/> aufhören kann, daß aber über eine ſteigende Zahl der wichtigſten Fragen doch zwiſchen<lb/> den verſchiedenſten Richtungen eine erfreuliche Einigkeit ſich bildet. Man wird daneben<lb/> zugeben, daß zahlreiche neue Elemente und Teile unſeres Wiſſens noch in Gärung ſich<lb/> befinden, daß es ſich noch darum handelt, aus der Summe neuer Einzelerkenntniſſe die<lb/> allgemeinen Reſultate zu ziehen, eine neue, einheitliche Wiſſenſchaft herzuſtellen. Aber<lb/> wir können behaupten, daß wir doch im ganzen dieſem wiſſenſchaftlichen Ziele uns<lb/> nähern; wir können hoffen, daß die mächtig fortſchreitende, geſicherte empiriſche Einzel-<lb/> erkenntnis mehr und mehr von Männern zu einem Ganzen verbunden werde, welche<lb/> zugleich durch univerſale Bildung, durch Charakter und ſittlichen Adel ſich auszeichnen;<lb/> geſchieht das, ſo werden auch die heutigen großen Fortſchritte der Volkswirtſchaftslehre<lb/> gute praktiſch-politiſche Früchte tragen.</p><lb/> <p>Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den beſten neueren volkswirt-<lb/> ſchaftlichen Werken in ihrer großen Mehrheit an die Stirne geſchrieben ſind, dürften<lb/> folgende ſein: 1. die Anerkennung des Entwickelungsgedankens, als der beherrſchenden<lb/> wiſſenſchaftlichen Idee unſeres Zeitalters; 2. eine pſychologiſch-ſittliche Betrachtung,<lb/> welche realiſtiſch von den Trieben und Gefühlen ausgeht, die ſittlichen Kräfte anerkennt,<lb/> alle Volkswirtſchaft als geſellſchaftliche Erſcheinung auf Grund von Sitte und Recht,<lb/> von Inſtitutionen und Organiſationen betrachtet; das wirtſchaftliche Leben wird ſo<lb/> wieder in Zuſammenhang mit Staat, Religion und Moral unterſucht; aus der Geſchäfts-<lb/> nationalökonomie iſt wieder eine moral-politiſche Wiſſenſchaft geworden; 3. ein kritiſches<lb/> Verhalten gegenüber der individualiſtiſchen Naturlehre, wie gegenüber dem Socialismus,<lb/> aus welchen beiden Schulen das Berechtigte ausgeſondert und anerkannt, das Verfehlte<lb/> ausgeſchieden wird; ebenſo die Zurückweiſung jedes Klaſſenſtandpunktes; ſtatt deſſen das<lb/> klare Streben, ſich ſtets auf den Standpunkt des Geſamtwohles und der geſunden Ent-<lb/> wickelung der Nation und der Menſchheit zu ſtellen; von hier aus Anerkennung <hi rendition="#aq">a</hi>) daß<lb/> die moderne Freiheit des Individuums und des Eigentums nicht wieder verſchwinden<lb/> könne, aber doch zugleich eine ſteigende wirtſchaftliche Vergeſellſchaftung und Verknüpfung<lb/> ſtattfinde, die zu neuen Inſtitutionen und Formen der Einkommensverteilung führen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [122/0138]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
50. Das Ergebnis der neueren Forſchung, der heutige Stand-
punkt der Wiſſenſchaft. Wenn wir fragen, was mit allen dieſen großen Fort-
ſchritten der Einzelerkenntnis im Gebiete der volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen erreicht
ſei, ſo können wir auf der einen Seite mit Hutten rufen, „es iſt eine Luſt zu leben“.
Unſer Wiſſen iſt außerordentlich gewachſen, in die Tiefe und in die Breite; wir haben
Methode und Sicherheit in unſere Forſchung gebracht. Wir wollen nicht mehr aus wenigen
abſtrakten Prämiſſen alle Erſcheinungen erklären und Ideale für alle Zeiten und Völker aus
ihnen ableiten. Wir ſind uns der Grenzen unſeres geſicherten Wiſſens, der Kompliziertheit
der Erſcheinungen, der Schwierigkeit der Fragen bewußt; wir ſtecken noch vielfach in
der Vorbereitung und Materialſammlung; aber trotzdem ſtehen wir mit anderer Klarheit
als vor 100 und vor 50 Jahren der Gegenwart und der Zukunft gegenüber, gerade
weil wir ſo viel Genaueres über die Vergangenheit heute wiſſen.
Freilich kommt von der anderen Seite der Einwurf: ja, ihr mögt mehr im
einzelnen wiſſen; aber es fehlt all’ dem die Einheit und die Wirkung aufs Leben.
Streiten nicht, ſagt man, die Parteien und die Klaſſen heute noch mehr auf wirtſchaft-
lichem und ſocialem Gebiete als in den Tagen A. Smiths und Raus? Erheben ſich
nicht wieder von vielen Seiten gegen die herrſchenden wiſſenſchaftlichen Autoritäten neue
Lehren und die alten Schulen in verjüngter Form: das Mancheſtertum iſt noch lange
nicht ausgeſtorben, gegen die Vertreter der ſocialen Reform erheben ſich mit Macht die
der Kapital- und Unternehmerintereſſen, wie z. B. Julius Wolf (Socialismus und
kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung, 1892). Der Socialismus ſcheint vielen noch zu
wachſen. Unter den führenden Autoritäten der Wiſſenſchaft ſelbſt herrſcht über Methode
und Reſultate noch ſo viel Streit, daß es ſcheinen könnte, die Sicherheit unſeres Wiſſens
habe ſich kaum verbeſſert.
Wer aber nicht grämlich und verzagend die Dinge betrachtet, der wird hierauf
antworten, daß über die praktiſche Politik der Streit immer vorhanden war und nicht
aufhören kann, daß aber über eine ſteigende Zahl der wichtigſten Fragen doch zwiſchen
den verſchiedenſten Richtungen eine erfreuliche Einigkeit ſich bildet. Man wird daneben
zugeben, daß zahlreiche neue Elemente und Teile unſeres Wiſſens noch in Gärung ſich
befinden, daß es ſich noch darum handelt, aus der Summe neuer Einzelerkenntniſſe die
allgemeinen Reſultate zu ziehen, eine neue, einheitliche Wiſſenſchaft herzuſtellen. Aber
wir können behaupten, daß wir doch im ganzen dieſem wiſſenſchaftlichen Ziele uns
nähern; wir können hoffen, daß die mächtig fortſchreitende, geſicherte empiriſche Einzel-
erkenntnis mehr und mehr von Männern zu einem Ganzen verbunden werde, welche
zugleich durch univerſale Bildung, durch Charakter und ſittlichen Adel ſich auszeichnen;
geſchieht das, ſo werden auch die heutigen großen Fortſchritte der Volkswirtſchaftslehre
gute praktiſch-politiſche Früchte tragen.
Die allgemeinen Gedanken und Ziele aber, welche den beſten neueren volkswirt-
ſchaftlichen Werken in ihrer großen Mehrheit an die Stirne geſchrieben ſind, dürften
folgende ſein: 1. die Anerkennung des Entwickelungsgedankens, als der beherrſchenden
wiſſenſchaftlichen Idee unſeres Zeitalters; 2. eine pſychologiſch-ſittliche Betrachtung,
welche realiſtiſch von den Trieben und Gefühlen ausgeht, die ſittlichen Kräfte anerkennt,
alle Volkswirtſchaft als geſellſchaftliche Erſcheinung auf Grund von Sitte und Recht,
von Inſtitutionen und Organiſationen betrachtet; das wirtſchaftliche Leben wird ſo
wieder in Zuſammenhang mit Staat, Religion und Moral unterſucht; aus der Geſchäfts-
nationalökonomie iſt wieder eine moral-politiſche Wiſſenſchaft geworden; 3. ein kritiſches
Verhalten gegenüber der individualiſtiſchen Naturlehre, wie gegenüber dem Socialismus,
aus welchen beiden Schulen das Berechtigte ausgeſondert und anerkannt, das Verfehlte
ausgeſchieden wird; ebenſo die Zurückweiſung jedes Klaſſenſtandpunktes; ſtatt deſſen das
klare Streben, ſich ſtets auf den Standpunkt des Geſamtwohles und der geſunden Ent-
wickelung der Nation und der Menſchheit zu ſtellen; von hier aus Anerkennung a) daß
die moderne Freiheit des Individuums und des Eigentums nicht wieder verſchwinden
könne, aber doch zugleich eine ſteigende wirtſchaftliche Vergeſellſchaftung und Verknüpfung
ſtattfinde, die zu neuen Inſtitutionen und Formen der Einkommensverteilung führen
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |