Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. gewisser Gesamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantasie, der irren kann,wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geist auf die rechte Bahn lenken. Die Beschreibung vollends greift immer gewissermaßen über die Beobachtung hinaus, indem sie feststehende Begriffe gebraucht, an feststehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen aus dem Beobachteten ausspricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Gesamtbilde vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. Die Zusammenfassung mehrerer Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Versuch, so ausprobierend Gesamtvorstellungen über größere Gebiete des volkswirtschaftlichen Lebens zu schaffen, ist ein Hauptmittel, in das Chaos zerstreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der Ansatz zu induktiven Schlüssen, wie alle Beschreibung ihren Hauptzweck darin hat, die Induktion, d. h. den Schluß vom einzelnen auf das zu Grunde liegende Gesetz vor- zubereiten; aber sie ist an sich noch nicht Induktion und dient ebenso der Deduktion und ihrer Verifikation. Je mehr freilich die größer angelegten Beschreibungen das analytisch im einzelnen Die vollendete Beschreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho- Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. gewiſſer Geſamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantaſie, der irren kann,wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geiſt auf die rechte Bahn lenken. Die Beſchreibung vollends greift immer gewiſſermaßen über die Beobachtung hinaus, indem ſie feſtſtehende Begriffe gebraucht, an feſtſtehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen aus dem Beobachteten ausſpricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Geſamtbilde vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. Die Zuſammenfaſſung mehrerer Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Verſuch, ſo ausprobierend Geſamtvorſtellungen über größere Gebiete des volkswirtſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, iſt ein Hauptmittel, in das Chaos zerſtreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der Anſatz zu induktiven Schlüſſen, wie alle Beſchreibung ihren Hauptzweck darin hat, die Induktion, d. h. den Schluß vom einzelnen auf das zu Grunde liegende Geſetz vor- zubereiten; aber ſie iſt an ſich noch nicht Induktion und dient ebenſo der Deduktion und ihrer Verifikation. Je mehr freilich die größer angelegten Beſchreibungen das analytiſch im einzelnen Die vollendete Beſchreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0118" n="102"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> gewiſſer Geſamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantaſie, der irren kann,<lb/> wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geiſt auf die rechte Bahn lenken. Die<lb/> Beſchreibung vollends greift immer gewiſſermaßen über die Beobachtung hinaus, indem<lb/> ſie feſtſtehende Begriffe gebraucht, an feſtſtehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen<lb/> aus dem Beobachteten ausſpricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Geſamtbilde<lb/> vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. 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Die geiſtigen Ope-<lb/> rationen dieſer Art verlaſſen auch ſtets den Boden der bloßen Beobachtung und Be-<lb/> ſchreibung, ſie umfaſſen die ganze Wiſſenſchaft; — die vollendete Beſchreibung einer ganzen<lb/> Volkswirtſchaft, einer volkswirtſchaftlichen Inſtitution, welche zugleich Kauſalerklärung iſt,<lb/> wird häufig teilweiſe hypothetiſch und teleologiſch verfahren; ſie kann in Meiſterhänden<lb/> doch ſo ſtreng wiſſenſchaftlich bleiben, daß ſie wahrer Erkenntnis ſehr nahe kommt.</p><lb/> <p>Die vollendete Beſchreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im<lb/> Raum nebeneinander auftretenden, in der Zeit ſich folgenden gleichen und ähnlichen<lb/> Erſcheinungen heranzuziehen. Nur aus ſolcher Vergleichung ergiebt ſich das Charakte-<lb/> riſtiſche und Eigentümliche deſſen, was man beſchreibend klar machen will. Der Kurs<lb/> von heute iſt nur verſtändlich neben dem von geſtern, das Handwerk wird als typiſche<lb/> Erſcheinung viel klarer, wenn ich Haus- und Großinduſtrie daneben ſtelle, die deutſche<lb/> Arbeiterverſicherung wird erſt recht verſtändlich, wenn ich ſie mit der engliſchen vergleiche.<lb/> Die Beſchreibung bedient ſich ſo der vergleichenden Methode, welche neuerdings eine<lb/> ſteigende Bedeutung in den verſchiedenſten Wiſſenſchaften und ſo auch in der unſeren<lb/> erhalten hat. Das Verfahren führt natürlich in der Regel über die Beſchreibung<lb/> hinaus zu Schlußfolgerungen allgemeiner Art. Und hier liegen auch weſentlich die<lb/> Fehler, welche die vergleichende Methode teilweiſe in Verruf gebracht haben. Gar manche<lb/> Gelehrte waren geneigt, wenn keine guten Beobachtungen vorlagen, unvollkommene zu<lb/> benutzen. Oftmals wurde nicht das Nächſtliegende, aus nahen Zeiträumen und ähnlichen<lb/> Kulturverhältniſſen Stammende miteinander verglichen, ſondern Fanatiker der Ver-<lb/> gleichung ſtellten oberflächliche Notizen über eine ägyptiſche, eine römiſche, eine hotten-<lb/> tottiſche Einrichtung nebeneinander. Daraus konnten nur falſche Geſamtergebniſſe und<lb/> ſchiefe Schlußfolgerungen hervorgehen.</p><lb/> <p>Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho-<lb/> diſch durchgebildeten Wiſſenſchaften entnehmen kann, wie z. B. der Pſychologie, Anthro-<lb/> pologie und Geographie, der Geſchichte und Statiſtik, der Rechtsgeſchichte, in deſto beſſerer<lb/> Lage iſt ſie. Aber ſo ſehr dies heute der Fall iſt, ſo ſehr damit die einzelnen Methoden<lb/> dieſer verwandten Wiſſenſchaften, zumal der Hülfswiſſenſchaft der Statiſtik, damit zu<lb/> Methoden der Nationalökonomie ſelbſt geworden ſind, ſo ſehr ſie in ihrem geſchichtlichen<lb/> Teile ſich der philologiſch-kritiſchen Methoden bedient, die dort ausgebildet wurden, ſo<lb/> wenig reicht doch häufig die den Stoff vorbereitende Thätigkeit der Nachbarwiſſenſchaften<lb/> aus. Die Geſchichte hat uns zahlreiche einzelne zuſammenhangsloſe Zunfturkunden<lb/> mitgeteilt, erſt der nationalökonomiſche Forſcher ſah, daß es nötig ſei, einmal von einer<lb/> einzigen Zunft einige hundert Urkunden nebeneinander zu ſtellen; die Geſchichte lieferte<lb/> uns manches Material über ältere Bevölkerungsbewegung; erſt bevölkerungsſtatiſtiſch und<lb/> nationalökomiſch geſchulte Leute, wie Hume und Dieterici früher, neuerdings K. Bücher<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [102/0118]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
gewiſſer Geſamteindrücke durch einen produktiven Akt der Phantaſie, der irren kann,
wenn nicht reiche Begabung und Schulung den Geiſt auf die rechte Bahn lenken. Die
Beſchreibung vollends greift immer gewiſſermaßen über die Beobachtung hinaus, indem
ſie feſtſtehende Begriffe gebraucht, an feſtſtehende Wahrheiten anknüpft, Folgerungen
aus dem Beobachteten ausſpricht, die einzelnen Beobachtungen zu einem Geſamtbilde
vereinigt, Vergleichungen zur Erläuterung heranzieht. Die Zuſammenfaſſung mehrerer
Beobachtungen und ihre Vergleichung, der Verſuch, ſo ausprobierend Geſamtvorſtellungen
über größere Gebiete des volkswirtſchaftlichen Lebens zu ſchaffen, iſt ein Hauptmittel,
in das Chaos zerſtreuter Einzelheiten Einheit zu bringen. Es liegt darin auch der
Anſatz zu induktiven Schlüſſen, wie alle Beſchreibung ihren Hauptzweck darin hat, die
Induktion, d. h. den Schluß vom einzelnen auf das zu Grunde liegende Geſetz vor-
zubereiten; aber ſie iſt an ſich noch nicht Induktion und dient ebenſo der Deduktion
und ihrer Verifikation.
Je mehr freilich die größer angelegten Beſchreibungen das analytiſch im einzelnen
Feſtgeſtellte zu Syntheſen zuſammenfaſſen, je mehr ſie von der elementaren Teilanalyſe
zur kauſalen, verknüpfenden Analyſe vordringen, deſto mehr werden wir vermuten, daß
nur der erfahrenſte Sachkenner, der zugleich ein vollendeter Künſtler iſt, der mit kurzen
Strichen alles Weſentliche hervorzuheben verſteht, Vollendetes leiſte. Die geiſtigen Ope-
rationen dieſer Art verlaſſen auch ſtets den Boden der bloßen Beobachtung und Be-
ſchreibung, ſie umfaſſen die ganze Wiſſenſchaft; — die vollendete Beſchreibung einer ganzen
Volkswirtſchaft, einer volkswirtſchaftlichen Inſtitution, welche zugleich Kauſalerklärung iſt,
wird häufig teilweiſe hypothetiſch und teleologiſch verfahren; ſie kann in Meiſterhänden
doch ſo ſtreng wiſſenſchaftlich bleiben, daß ſie wahrer Erkenntnis ſehr nahe kommt.
Die vollendete Beſchreibung wird in der Regel nicht vermeiden können, die im
Raum nebeneinander auftretenden, in der Zeit ſich folgenden gleichen und ähnlichen
Erſcheinungen heranzuziehen. Nur aus ſolcher Vergleichung ergiebt ſich das Charakte-
riſtiſche und Eigentümliche deſſen, was man beſchreibend klar machen will. Der Kurs
von heute iſt nur verſtändlich neben dem von geſtern, das Handwerk wird als typiſche
Erſcheinung viel klarer, wenn ich Haus- und Großinduſtrie daneben ſtelle, die deutſche
Arbeiterverſicherung wird erſt recht verſtändlich, wenn ich ſie mit der engliſchen vergleiche.
Die Beſchreibung bedient ſich ſo der vergleichenden Methode, welche neuerdings eine
ſteigende Bedeutung in den verſchiedenſten Wiſſenſchaften und ſo auch in der unſeren
erhalten hat. Das Verfahren führt natürlich in der Regel über die Beſchreibung
hinaus zu Schlußfolgerungen allgemeiner Art. Und hier liegen auch weſentlich die
Fehler, welche die vergleichende Methode teilweiſe in Verruf gebracht haben. Gar manche
Gelehrte waren geneigt, wenn keine guten Beobachtungen vorlagen, unvollkommene zu
benutzen. Oftmals wurde nicht das Nächſtliegende, aus nahen Zeiträumen und ähnlichen
Kulturverhältniſſen Stammende miteinander verglichen, ſondern Fanatiker der Ver-
gleichung ſtellten oberflächliche Notizen über eine ägyptiſche, eine römiſche, eine hotten-
tottiſche Einrichtung nebeneinander. Daraus konnten nur falſche Geſamtergebniſſe und
ſchiefe Schlußfolgerungen hervorgehen.
Einen je größeren Teil ihres rohen Stoffes die Nationalökonomie anderen metho-
diſch durchgebildeten Wiſſenſchaften entnehmen kann, wie z. B. der Pſychologie, Anthro-
pologie und Geographie, der Geſchichte und Statiſtik, der Rechtsgeſchichte, in deſto beſſerer
Lage iſt ſie. Aber ſo ſehr dies heute der Fall iſt, ſo ſehr damit die einzelnen Methoden
dieſer verwandten Wiſſenſchaften, zumal der Hülfswiſſenſchaft der Statiſtik, damit zu
Methoden der Nationalökonomie ſelbſt geworden ſind, ſo ſehr ſie in ihrem geſchichtlichen
Teile ſich der philologiſch-kritiſchen Methoden bedient, die dort ausgebildet wurden, ſo
wenig reicht doch häufig die den Stoff vorbereitende Thätigkeit der Nachbarwiſſenſchaften
aus. Die Geſchichte hat uns zahlreiche einzelne zuſammenhangsloſe Zunfturkunden
mitgeteilt, erſt der nationalökonomiſche Forſcher ſah, daß es nötig ſei, einmal von einer
einzigen Zunft einige hundert Urkunden nebeneinander zu ſtellen; die Geſchichte lieferte
uns manches Material über ältere Bevölkerungsbewegung; erſt bevölkerungsſtatiſtiſch und
nationalökomiſch geſchulte Leute, wie Hume und Dieterici früher, neuerdings K. Bücher
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Zitationshilfe: | Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/118>, abgerufen am 16.02.2025. |