Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Institutionen, die diese steigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeßbeherrschen und beeinflussen. Was der deutsche Socialismus teils selbständig neben den genannten noch schuf Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktische Bedeutung Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Inſtitutionen, die dieſe ſteigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeßbeherrſchen und beeinfluſſen. Was der deutſche Socialismus teils ſelbſtändig neben den genannten noch ſchuf Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktiſche Bedeutung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0114" n="98"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/> Inſtitutionen, die dieſe ſteigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeß<lb/> beherrſchen und beeinfluſſen.</p><lb/> <p>Was der deutſche Socialismus teils ſelbſtändig neben den genannten noch ſchuf<lb/> (z. B. Marlo [Winkelblech], Organiſation der Arbeit, 1850; Dühring, Kurſus der<lb/> National- und Socialökonomie, 1873; Hertzka, Geſetze der ſocialen Entwickelung, 1886,<lb/> Freiland, 1890; Flürſcheim, Der einzige Rettungsweg, 1890), teils im engen Partei-<lb/> anſchluß an ſie erzeugte (wie die Schriften von Bebel, Liebknecht, Schippel), hat<lb/> keine ſo ſelbſtändige Bedeutung, daß hier näher darauf einzugehen wäre. Nur Engels<lb/> verdient als Freund und litterariſcher Genoſſe von Marx beſondere Erwähnung (haupt-<lb/> ſächlich durch ſein Buch: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wiſſenſchaft, 1877<lb/> und 1886). Und unter den Nachfolgern ſind K. Kautsky (Thomas Morus und ſeine<lb/> Utopie, 1887), F. Mehring (Die Leſſinglegende nebſt Anhang über den hiſtoriſchen<lb/> Materialismus, 1893; ſeine litterargeſchichtlichen Werke ſind oben genannt), Schönlank<lb/> (Sociale Kämpfe vor dreihundert Jahren, 1894; Arbeiten über Kartelle, Queckſilber-<lb/> induſtrie) und E. Bernſtein (Die Vorausſetzungen des Socialismus und die Aufgaben<lb/> der Socialdemokratie, 1899) wohl als die zu nennen, welche neben der ſocialiſtiſchen<lb/> Parteileidenſchaft erhebliches wiſſenſchaftliches Talent zeigen, wie ja auch in ihrer Zeit-<lb/> ſchrift (Neue Zeit ſeit 1882) manche ehrliche wiſſenſchaftliche Arbeit enthalten iſt. Freilich<lb/> in dem Maße als ſie hervortritt, verlaſſen dieſe Schriften auch den einſeitigen Partei-<lb/> und Klaſſenſtandpunkt, welcher ja an ſich echte objektive Wiſſenſchaft ausſchließt. In<lb/> den engliſch redenden Ländern hat der Amerikaner Henry George (<hi rendition="#aq">Progress and poverty,</hi><lb/> 1879, deutſch 1881) durch ſeine Agitation gegen das Bodenmonopol, deſſen Rente er<lb/> durch Steuern einziehen will, Aufſehen gemacht; er iſt ein talentvoller leidenſchaft-<lb/> licher, aber autodidaktiſcher und phraſenhafter Schriftſteller, wird in ſeinen Grund-<lb/> gedanken von Ricardo einerſeits, von den Mißbräuchen der amerikaniſchen Boden-<lb/> ſpekulation andererſeits beherrſcht. In England ſpielt neuerdings eine ſocialiſtiſche<lb/> Litteratengeſellſchaft (<hi rendition="#aq">Fabian society, fabian essays in socialism</hi> 1890) eine gewiſſe<lb/> Rolle, die ihr größtes Talent in Frau Sidney Webb zu haben ſcheint. Wenn in den<lb/> Eſſays noch der alte naturrechtliche Socialismus vorherrſcht, ſo tritt in anderen Erzeug-<lb/> niſſen der Schule der praktiſch und theoretiſch bedeutſame Gedanke in den Vordergrund,<lb/> daß ein Sieg ſocialiſtiſcher Geſellſchaftseinrichtungen abhänge von einer vorausgehenden<lb/> demokratiſchen Schulung, Erziehung und Organiſation der Arbeiter in Vereinen und<lb/> Genoſſenſchaften, in Gemeinde und Grafſchaft. Als die wichtigſten Erzeugniſſe dieſer<lb/> Richtung ſind zu nennen: Frau Sidney Webb, Die britiſche Genoſſenſchaftsbewegung,<lb/> 1891, deutſch herausg. von Brentano 1893; Sidney und Beatrice Webb, <hi rendition="#aq">The history<lb/> of trade unionism,</hi> 1894; dieſelben, <hi rendition="#aq">Industrial democracy,</hi> 2 Bde., 1897. Das ſind<lb/> Leiſtungen, welche weit über denen von Marx ſtehen, aber auch nur in beſchränkter Weiſe<lb/> dem Socialismus zuzuzählen ſind.</p><lb/> <p>Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktiſche Bedeutung<lb/> erhalten, weil er zur Glaubenslehre, zum Ideal der zu politiſchen Rechten und zum<lb/> Selbſtbewußtſein gekommenen Arbeiter der Großinduſtrie wurde. Er wurde es, weil er<lb/> auf große ſociale und andere Mißſtände und Mißbräuche kühn hinwies und deren Ände-<lb/> rung forderte, an die radikalen und materialiſtiſchen Tagesſtrömungen ſich anſchloß, den<lb/> rohen Inſtinkten der Maſſe teils mit verführeriſchen Zukunftsplänen, teils mit blendenden<lb/> Geſchichtskonſtruktionen und philoſophiſchen Formeln ſchmeichelte. Seine volkswirtſchaft-<lb/> liche Bedeutung beſteht darin, daß er den unklaren Optimismus der Freihandelsſchule<lb/> zerſtörte, durch eine Analyſe der Klaſſengegenſätze und -Kämpfe, des politiſchen und<lb/> wirtſchaftlichen Machtmißbrauches, ſowie der unſicheren und kümmerlichen Lage der Arbeiter<lb/> wichtige Erſcheinungen und Gebiete der Volkswirtſchaft faſt neu entdeckte. Der Socialis-<lb/> mus hat ſich mit Energie dem großen Gedanken der Entwickelung zugewandt, hat den<lb/> Zuſammenhang zwiſchen Recht, Staat und Volkswirtſchaft wieder betont, hat die ganze<lb/> bisherige Wiſſenſchaft zu neuen Ideen, Frageſtellungen und Unterſuchungen angeregt.<lb/> Mögen alſo ſeine utopiſchen Ideale von einer Aufhebung aller Klaſſengegenſätze, einer<lb/> Beſeitigung aller Einkommens- und Vermögensungleichheit, von einem ſinnlichen Genuß-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [98/0114]
Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Inſtitutionen, die dieſe ſteigern oder mildern, und die den Güterverteilungsprozeß
beherrſchen und beeinfluſſen.
Was der deutſche Socialismus teils ſelbſtändig neben den genannten noch ſchuf
(z. B. Marlo [Winkelblech], Organiſation der Arbeit, 1850; Dühring, Kurſus der
National- und Socialökonomie, 1873; Hertzka, Geſetze der ſocialen Entwickelung, 1886,
Freiland, 1890; Flürſcheim, Der einzige Rettungsweg, 1890), teils im engen Partei-
anſchluß an ſie erzeugte (wie die Schriften von Bebel, Liebknecht, Schippel), hat
keine ſo ſelbſtändige Bedeutung, daß hier näher darauf einzugehen wäre. Nur Engels
verdient als Freund und litterariſcher Genoſſe von Marx beſondere Erwähnung (haupt-
ſächlich durch ſein Buch: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wiſſenſchaft, 1877
und 1886). Und unter den Nachfolgern ſind K. Kautsky (Thomas Morus und ſeine
Utopie, 1887), F. Mehring (Die Leſſinglegende nebſt Anhang über den hiſtoriſchen
Materialismus, 1893; ſeine litterargeſchichtlichen Werke ſind oben genannt), Schönlank
(Sociale Kämpfe vor dreihundert Jahren, 1894; Arbeiten über Kartelle, Queckſilber-
induſtrie) und E. Bernſtein (Die Vorausſetzungen des Socialismus und die Aufgaben
der Socialdemokratie, 1899) wohl als die zu nennen, welche neben der ſocialiſtiſchen
Parteileidenſchaft erhebliches wiſſenſchaftliches Talent zeigen, wie ja auch in ihrer Zeit-
ſchrift (Neue Zeit ſeit 1882) manche ehrliche wiſſenſchaftliche Arbeit enthalten iſt. Freilich
in dem Maße als ſie hervortritt, verlaſſen dieſe Schriften auch den einſeitigen Partei-
und Klaſſenſtandpunkt, welcher ja an ſich echte objektive Wiſſenſchaft ausſchließt. In
den engliſch redenden Ländern hat der Amerikaner Henry George (Progress and poverty,
1879, deutſch 1881) durch ſeine Agitation gegen das Bodenmonopol, deſſen Rente er
durch Steuern einziehen will, Aufſehen gemacht; er iſt ein talentvoller leidenſchaft-
licher, aber autodidaktiſcher und phraſenhafter Schriftſteller, wird in ſeinen Grund-
gedanken von Ricardo einerſeits, von den Mißbräuchen der amerikaniſchen Boden-
ſpekulation andererſeits beherrſcht. In England ſpielt neuerdings eine ſocialiſtiſche
Litteratengeſellſchaft (Fabian society, fabian essays in socialism 1890) eine gewiſſe
Rolle, die ihr größtes Talent in Frau Sidney Webb zu haben ſcheint. Wenn in den
Eſſays noch der alte naturrechtliche Socialismus vorherrſcht, ſo tritt in anderen Erzeug-
niſſen der Schule der praktiſch und theoretiſch bedeutſame Gedanke in den Vordergrund,
daß ein Sieg ſocialiſtiſcher Geſellſchaftseinrichtungen abhänge von einer vorausgehenden
demokratiſchen Schulung, Erziehung und Organiſation der Arbeiter in Vereinen und
Genoſſenſchaften, in Gemeinde und Grafſchaft. Als die wichtigſten Erzeugniſſe dieſer
Richtung ſind zu nennen: Frau Sidney Webb, Die britiſche Genoſſenſchaftsbewegung,
1891, deutſch herausg. von Brentano 1893; Sidney und Beatrice Webb, The history
of trade unionism, 1894; dieſelben, Industrial democracy, 2 Bde., 1897. Das ſind
Leiſtungen, welche weit über denen von Marx ſtehen, aber auch nur in beſchränkter Weiſe
dem Socialismus zuzuzählen ſind.
Der Socialismus des 19. Jahrhunderts hat eine eminent praktiſche Bedeutung
erhalten, weil er zur Glaubenslehre, zum Ideal der zu politiſchen Rechten und zum
Selbſtbewußtſein gekommenen Arbeiter der Großinduſtrie wurde. Er wurde es, weil er
auf große ſociale und andere Mißſtände und Mißbräuche kühn hinwies und deren Ände-
rung forderte, an die radikalen und materialiſtiſchen Tagesſtrömungen ſich anſchloß, den
rohen Inſtinkten der Maſſe teils mit verführeriſchen Zukunftsplänen, teils mit blendenden
Geſchichtskonſtruktionen und philoſophiſchen Formeln ſchmeichelte. Seine volkswirtſchaft-
liche Bedeutung beſteht darin, daß er den unklaren Optimismus der Freihandelsſchule
zerſtörte, durch eine Analyſe der Klaſſengegenſätze und -Kämpfe, des politiſchen und
wirtſchaftlichen Machtmißbrauches, ſowie der unſicheren und kümmerlichen Lage der Arbeiter
wichtige Erſcheinungen und Gebiete der Volkswirtſchaft faſt neu entdeckte. Der Socialis-
mus hat ſich mit Energie dem großen Gedanken der Entwickelung zugewandt, hat den
Zuſammenhang zwiſchen Recht, Staat und Volkswirtſchaft wieder betont, hat die ganze
bisherige Wiſſenſchaft zu neuen Ideen, Frageſtellungen und Unterſuchungen angeregt.
Mögen alſo ſeine utopiſchen Ideale von einer Aufhebung aller Klaſſengegenſätze, einer
Beſeitigung aller Einkommens- und Vermögensungleichheit, von einem ſinnlichen Genuß-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |