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Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902.

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4 E. SCHMIDT:


Als der halbwüchsige Pastorsohn, ein Schlesier wie die Germanisten
Jacobi, Sommer, Freytag, Zacher, von der Schulbank zur Universität hin-
überblickte, die dem Mittellosen ein theologisches Brotstudium anwies, brach
er in den Ruf aus " Wie schön wär' es zu studiren, um zu studiren!", und
Jacob Grimm's Name trat ihm sogleich auf die Lippen. Er hat sich diesen
Weg erobert. Das deutsche Studium ward und blieb ihm "eine fromme
Lust". Es begann in Jahren der vollen Ernten, der fruchtbaren Aussaat,
da gar manche der uns jetzt selbstverständlichen Hilfsmittel fehlten, aber
der Reiz, Neuland zu besetzen und zu pflügen, desto grösser war. "Die
Nachwelt," so bekennt Lachmann's inhaltschwere Vorrede zum Iwein 1843,
"die unser mühselig Gewonnenes schon fertig überliefert empfängt, wird,
weil sie unsere Dürftigkeit nicht begreift, unseren Fleiss und unsere gei-
stige Anstrengung nicht genug ehren: dafür haben wir die herzliche Lust
des ersten Erwerbes voraus gehabt." Noch konnte Lachmann seine bün-
digen Worte vom wahren Verstehn an den greisen Mitarbeiter Benecke rich-
ten und gleichzeitig den "Walther" auf neue Fahrt entsenden, nachdem
er kurz vorher Lessing's Werke mit bahnbrechender Sorgfalt hingestellt
und Gervinus, unmuthig zwar, seine imposante Litteraturgeschichte beendet
hatte. Moriz Haupt's auf sicherste Herrschaft über Stil und Metrik gegrün-
dete mittelhochdeutsche Texte erschienen in rascher Folge. Die neue Zeit-
schrift für deutsches Alterthum stand auch den frisch antretenden Jüngern
offen. Seit 1840 lebten die Brüder Grimm in Berlin, wo sie Lachmann,
Bopp im besten Mannesalter fanden. Jacob sann Lieblingsgedanken und
Lieblingsirrthümern zur Sprach- und Culturgeschichte und zur germanischen
Ethnologie nach, der eben damals, durch Kaspar Zeuss angeregt, der junge
Müllenhoff seine zähe Kraft verlobte. Die nordischen Studien empfingen
auch in Deutschland Vorschub, zugleich Ausbreitung im Unterricht durch
ein zweckmässiges Lesebuch. Philologen, Historiker, Juristen schlossen als
"Germanisten" einen Bund. Die Rechtswissenschaft, in der Jacob Grimm
den Goldfaden des Volksmässigen gesponnen, durfte auf Wilda's "Strafrecht
der Germanen" stolz sein. Jacob's zweite Auflage der "Mythologie" (1844)
rief eine ungeheure sinnige und unsinnige Nacheiferung hervor; strengere
Forscher mochten auch an Ludwig Uhland, den Biographen skandinavischer
Götter, anknüpfen und wiederum in dieser Zeit, wo die Sammlungen zu jeg-
licher Volkskunde so üppig in's Kraut schossen, sich dadurch angespornt
fühlen, dass Uhland -- Dichter und Forscher in einer wat, swie doch die


4 E. SCHMIDT:


Als der halbwüchsige Pastorsohn, ein Schlesier wie die Germanisten
Jacobi, Sommer, Freytag, Zacher, von der Schulbank zur Universität hin-
überblickte, die dem Mittellosen ein theologisches Brotstudium anwies, brach
er in den Ruf aus » Wie schön wär' es zu studiren, um zu studiren!«, und
Jacob Grimm’s Name trat ihm sogleich auf die Lippen. Er hat sich diesen
Weg erobert. Das deutsche Studium ward und blieb ihm »eine fromme
Lust«. Es begann in Jahren der vollen Ernten, der fruchtbaren Aussaat,
da gar manche der uns jetzt selbstverständlichen Hilfsmittel fehlten, aber
der Reiz, Neuland zu besetzen und zu pflügen, desto gröſser war. »Die
Nachwelt,« so bekennt Lachmann’s inhaltschwere Vorrede zum Iwein 1843,
»die unser mühselig Gewonnenes schon fertig überliefert empfängt, wird,
weil sie unsere Dürftigkeit nicht begreift, unseren Fleiſs und unsere gei-
stige Anstrengung nicht genug ehren: dafür haben wir die herzliche Lust
des ersten Erwerbes voraus gehabt.« Noch konnte Lachmann seine bün-
digen Worte vom wahren Verstehn an den greisen Mitarbeiter Benecke rich-
ten und gleichzeitig den »Walther« auf neue Fahrt entsenden, nachdem
er kurz vorher Lessing's Werke mit bahnbrechender Sorgfalt hingestellt
und Gervinus, unmuthig zwar, seine imposante Litteraturgeschichte beendet
hatte. Moriz Haupt's auf sicherste Herrschaft über Stil und Metrik gegrün-
dete mittelhochdeutsche Texte erschienen in rascher Folge. Die neue Zeit-
schrift für deutsches Alterthum stand auch den frisch antretenden Jüngern
offen. Seit 1840 lebten die Brüder Grimm in Berlin, wo sie Lachmann,
Bopp im besten Mannesalter fanden. Jacob sann Lieblingsgedanken und
Lieblingsirrthümern zur Sprach- und Culturgeschichte und zur germanischen
Ethnologie nach, der eben damals, durch Kaspar Zeuſs angeregt, der junge
Müllenhoff seine zähe Kraft verlobte. Die nordischen Studien empfingen
auch in Deutschland Vorschub, zugleich Ausbreitung im Unterricht durch
ein zweckmäſsiges Lesebuch. Philologen, Historiker, Juristen schlossen als
»Germanisten« einen Bund. Die Rechtswissenschaft, in der Jacob Grimm
den Goldfaden des Volksmäſsigen gesponnen, durfte auf Wilda’s »Strafrecht
der Germanen« stolz sein. Jacob’s zweite Auflage der »Mythologie« (1844)
rief eine ungeheure sinnige und unsinnige Nacheiferung hervor; strengere
Forscher mochten auch an Ludwig Uhland, den Biographen skandinavischer
Götter, anknüpfen und wiederum in dieser Zeit, wo die Sammlungen zu jeg-
licher Volkskunde so üppig in’s Kraut schossen, sich dadurch angespornt
fühlen, daſs Uhland — Dichter und Forscher in einer wât, swie doch die

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[6/0006] 4 E. SCHMIDT: Als der halbwüchsige Pastorsohn, ein Schlesier wie die Germanisten Jacobi, Sommer, Freytag, Zacher, von der Schulbank zur Universität hin- überblickte, die dem Mittellosen ein theologisches Brotstudium anwies, brach er in den Ruf aus » Wie schön wär' es zu studiren, um zu studiren!«, und Jacob Grimm’s Name trat ihm sogleich auf die Lippen. Er hat sich diesen Weg erobert. Das deutsche Studium ward und blieb ihm »eine fromme Lust«. Es begann in Jahren der vollen Ernten, der fruchtbaren Aussaat, da gar manche der uns jetzt selbstverständlichen Hilfsmittel fehlten, aber der Reiz, Neuland zu besetzen und zu pflügen, desto gröſser war. »Die Nachwelt,« so bekennt Lachmann’s inhaltschwere Vorrede zum Iwein 1843, »die unser mühselig Gewonnenes schon fertig überliefert empfängt, wird, weil sie unsere Dürftigkeit nicht begreift, unseren Fleiſs und unsere gei- stige Anstrengung nicht genug ehren: dafür haben wir die herzliche Lust des ersten Erwerbes voraus gehabt.« Noch konnte Lachmann seine bün- digen Worte vom wahren Verstehn an den greisen Mitarbeiter Benecke rich- ten und gleichzeitig den »Walther« auf neue Fahrt entsenden, nachdem er kurz vorher Lessing's Werke mit bahnbrechender Sorgfalt hingestellt und Gervinus, unmuthig zwar, seine imposante Litteraturgeschichte beendet hatte. Moriz Haupt's auf sicherste Herrschaft über Stil und Metrik gegrün- dete mittelhochdeutsche Texte erschienen in rascher Folge. Die neue Zeit- schrift für deutsches Alterthum stand auch den frisch antretenden Jüngern offen. Seit 1840 lebten die Brüder Grimm in Berlin, wo sie Lachmann, Bopp im besten Mannesalter fanden. Jacob sann Lieblingsgedanken und Lieblingsirrthümern zur Sprach- und Culturgeschichte und zur germanischen Ethnologie nach, der eben damals, durch Kaspar Zeuſs angeregt, der junge Müllenhoff seine zähe Kraft verlobte. Die nordischen Studien empfingen auch in Deutschland Vorschub, zugleich Ausbreitung im Unterricht durch ein zweckmäſsiges Lesebuch. Philologen, Historiker, Juristen schlossen als »Germanisten« einen Bund. Die Rechtswissenschaft, in der Jacob Grimm den Goldfaden des Volksmäſsigen gesponnen, durfte auf Wilda’s »Strafrecht der Germanen« stolz sein. Jacob’s zweite Auflage der »Mythologie« (1844) rief eine ungeheure sinnige und unsinnige Nacheiferung hervor; strengere Forscher mochten auch an Ludwig Uhland, den Biographen skandinavischer Götter, anknüpfen und wiederum in dieser Zeit, wo die Sammlungen zu jeg- licher Volkskunde so üppig in’s Kraut schossen, sich dadurch angespornt fühlen, daſs Uhland — Dichter und Forscher in einer wât, swie doch die

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Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Digitalisate und OCR. (2020-03-03T12:13:05Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, OCR-D: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-03-04T12:13:05Z)

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Zitationshilfe: Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmidt_weinhold_1902/6>, abgerufen am 24.11.2024.