Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902.

Bild:
<< vorherige Seite


Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. 11


näckig stund, nicht stand, wie er in Graz mit Holtei und einem alten
Collegen selbdritt bei der ursprünglichen, obsoleten Form Gräz gegenüber
der bäurischer Aussprache entsprungenen, nunmehr allgemein giltigen ver-
blieb, ja dass nach seinen Reformvorschlägen für die Rechtschreibung in
Österreich (1852), die Werthvolles zur Geschichte boten, unsre im sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhundert geeinte neuhochdeutsche Schriftsprache
mittelalterliche Normen rückläufig befolgen sollte: man habe nicht bloss
sintflut und eräugnen, sondern auch liecht, schepfer, lewe, wirdig, würken zu
schreiben, also natürlich auch zu sprechen. Wo war ein Halt auf dieser
schiefen Ebene pseudohistorischer Gebote? Mich hat freilich noch, als ich
in Würzburg zu wirken versuchte, die Zeitschrift für deutsches Alterthum
zu den Formen Wirzburg und würken gezwungen. Weinhold selbst lenkte
bald ein. Er betrieb, während sein treutfleissiger Schüler Matthias Lexer
sich ganz ausschliesslich der Lexikographie widmete, Sammlungen zu einem
steirischen Wörterbuch, die nun nach Graz heimgewandert sind wie die
viel bedeutenderen zum schlesischen nach Breslau. Immer wieder ist Wein-
hold bis in die allerletzte Zeit, wo er Temporalpartikeln selbst bei den
heutigen Dialektdichtern mit philologischer Akribie beobachtete, mit klei-
neren und grösseren Beiträgen der Herkunft, den Urkunden, den Sitten,
den Märchen, den Ortsnamen, dem Wortschatz und Sprachgebrauch seiner
lieben Schlesier nachgegangen, deren Art und ein bischen Unart er als
junger Forscher und an Holtei's achtzigstem Geburtstage so klar gezeichnet
hat, wie es nur ein unbefangener Landsmann vermag und darf.
Aus dem ersten Studium der schlesischen Mundart erwuchs allgemach
der Plan einer grammatischen Darstellung der grossen Volksstämme Deutsch-
lands. Weinhold brachte die Alemannische Grammatik beinah fertig nach
Kiel mit und widmete sie Jacob Grimm in dessen Todesjahr; die Bairische,
dem Andenken Schmeller's zugeeignet, erschien vier Jahre später. Für
diese gab es, obwohl Schmeller ja Österreich ausgeschlossen hatte, reiche
Vorarbeit; jene musste fast ganz aus dem Rohen herausgeholt werden.
Auch unterlag die Scheidung der ältesten alemannischen von den bairischen
Denkmälern grossen, nicht auf den ersten Anhieb zu besiegenden Schwierig-
keiten, deren Weinhold sich sehr wohl bewusst war. In ein überkommenes
Fachwerk ordnete sein eherner, entsagungsvoller Fleiss die weitschichtigen
Materialien zum Ausbau der Grimm'schen Grammatik und gab uns unent-


behrliche Handbücher, ohne doch die Mainlinie zu überschreiten. Daran
2*


Gedächtniſsrede auf Karl Weinhold. 11


näckig stund, nicht stand, wie er in Graz mit Holtei und einem alten
Collegen selbdritt bei der ursprünglichen, obsoleten Form Gräz gegenüber
der bäurischer Aussprache entsprungenen, nunmehr allgemein giltigen ver-
blieb, ja daſs nach seinen Reformvorschlägen für die Rechtschreibung in
Österreich (1852), die Werthvolles zur Geschichte boten, unsre im sieb-
zehnten und achtzehnten Jahrhundert geeinte neuhochdeutsche Schriftsprache
mittelalterliche Normen rückläufig befolgen sollte: man habe nicht bloſs
sintflut und eräugnen, sondern auch liecht, schepfer, lewe, wirdig, würken zu
schreiben, also natürlich auch zu sprechen. Wo war ein Halt auf dieser
schiefen Ebene pseudohistorischer Gebote? Mich hat freilich noch, als ich
in Würzburg zu wirken versuchte, die Zeitschrift für deutsches Alterthum
zu den Formen Wirzburg und würken gezwungen. Weinhold selbst lenkte
bald ein. Er betrieb, während sein treutfleiſsiger Schüler Matthias Lexer
sich ganz ausschlieſslich der Lexikographie widmete, Sammlungen zu einem
steirischen Wörterbuch, die nun nach Graz heimgewandert sind wie die
viel bedeutenderen zum schlesischen nach Breslau. Immer wieder ist Wein-
hold bis in die allerletzte Zeit, wo er Temporalpartikeln selbst bei den
heutigen Dialektdichtern mit philologischer Akribie beobachtete, mit klei-
neren und gröſseren Beiträgen der Herkunft, den Urkunden, den Sitten,
den Märchen, den Ortsnamen, dem Wortschatz und Sprachgebrauch seiner
lieben Schlesier nachgegangen, deren Art und ein bischen Unart er als
junger Forscher und an Holtei’s achtzigstem Geburtstage so klar gezeichnet
hat, wie es nur ein unbefangener Landsmann vermag und darf.
Aus dem ersten Studium der schlesischen Mundart erwuchs allgemach
der Plan einer grammatischen Darstellung der groſsen Volksstämme Deutsch-
lands. Weinhold brachte die Alemannische Grammatik beinah fertig nach
Kiel mit und widmete sie Jacob Grimm in dessen Todesjahr; die Bairische,
dem Andenken Schmeller’s zugeeignet, erschien vier Jahre später. Für
diese gab es, obwohl Schmeller ja Österreich ausgeschlossen hatte, reiche
Vorarbeit; jene muſste fast ganz aus dem Rohen herausgeholt werden.
Auch unterlag die Scheidung der ältesten alemannischen von den bairischen
Denkmälern groſsen, nicht auf den ersten Anhieb zu besiegenden Schwierig-
keiten, deren Weinhold sich sehr wohl bewuſst war. In ein überkommenes
Fachwerk ordnete sein eherner, entsagungsvoller Fleiſs die weitschichtigen
Materialien zum Ausbau der Grimm’schen Grammatik und gab uns unent-


behrliche Handbücher, ohne doch die Mainlinie zu überschreiten. Daran
2*

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <pb facs="#f0013" n="13"/>
        <p><lb/>
Gedächtni&#x017F;srede auf Karl Weinhold. 11</p>
        <p><lb/>
näckig stund, nicht stand, wie er in Graz mit Holtei und einem alten<lb/>
Collegen selbdritt bei der ursprünglichen, obsoleten Form Gräz gegenüber<lb/>
der bäurischer Aussprache entsprungenen, nunmehr allgemein giltigen ver-<lb/>
blieb, ja da&#x017F;s nach seinen Reformvorschlägen für die Rechtschreibung in<lb/>
Österreich (1852), die Werthvolles zur Geschichte boten, unsre im sieb-<lb/>
zehnten und achtzehnten Jahrhundert geeinte neuhochdeutsche Schriftsprache<lb/>
mittelalterliche Normen rückläufig befolgen sollte: man habe nicht blo&#x017F;s<lb/>
sintflut und eräugnen, sondern auch liecht, schepfer, lewe, wirdig, würken zu<lb/>
schreiben, also natürlich auch zu sprechen. Wo war ein Halt auf dieser<lb/>
schiefen Ebene pseudohistorischer Gebote? Mich hat freilich noch, als ich<lb/>
in Würzburg zu wirken versuchte, die Zeitschrift für deutsches Alterthum<lb/>
zu den Formen Wirzburg und würken gezwungen. Weinhold selbst lenkte<lb/>
bald ein. Er betrieb, während sein treutflei&#x017F;siger Schüler Matthias Lexer<lb/>
sich ganz ausschlie&#x017F;slich der Lexikographie widmete, Sammlungen zu einem<lb/>
steirischen Wörterbuch, die nun nach Graz heimgewandert sind wie die<lb/>
viel bedeutenderen zum schlesischen nach Breslau. Immer wieder ist Wein-<lb/>
hold bis in die allerletzte Zeit, wo er Temporalpartikeln selbst bei den<lb/>
heutigen Dialektdichtern mit philologischer Akribie beobachtete, mit klei-<lb/>
neren und grö&#x017F;seren Beiträgen der Herkunft, den Urkunden, den Sitten,<lb/>
den Märchen, den Ortsnamen, dem Wortschatz und Sprachgebrauch seiner<lb/>
lieben Schlesier nachgegangen, deren Art und ein bischen Unart er als<lb/>
junger Forscher und an Holtei&#x2019;s achtzigstem Geburtstage so klar gezeichnet<lb/>
hat, wie es nur ein unbefangener Landsmann vermag und darf.<lb/>
Aus dem ersten Studium der schlesischen Mundart erwuchs allgemach<lb/>
der Plan einer grammatischen Darstellung der gro&#x017F;sen Volksstämme Deutsch-<lb/>
lands. Weinhold brachte die Alemannische Grammatik beinah fertig nach<lb/>
Kiel mit und widmete sie Jacob Grimm in dessen Todesjahr; die Bairische,<lb/>
dem Andenken Schmeller&#x2019;s zugeeignet, erschien vier Jahre später. Für<lb/>
diese gab es, obwohl Schmeller ja Österreich ausgeschlossen hatte, reiche<lb/>
Vorarbeit; jene mu&#x017F;ste fast ganz aus dem Rohen herausgeholt werden.<lb/>
Auch unterlag die Scheidung der ältesten alemannischen von den bairischen<lb/>
Denkmälern gro&#x017F;sen, nicht auf den ersten Anhieb zu besiegenden Schwierig-<lb/>
keiten, deren Weinhold sich sehr wohl bewu&#x017F;st war. In ein überkommenes<lb/>
Fachwerk ordnete sein eherner, entsagungsvoller Flei&#x017F;s die weitschichtigen<lb/>
Materialien zum Ausbau der Grimm&#x2019;schen Grammatik und gab uns unent-</p>
        <p><lb/>
behrliche Handbücher, ohne doch die Mainlinie zu überschreiten. Daran<lb/>
2*</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0013] Gedächtniſsrede auf Karl Weinhold. 11 näckig stund, nicht stand, wie er in Graz mit Holtei und einem alten Collegen selbdritt bei der ursprünglichen, obsoleten Form Gräz gegenüber der bäurischer Aussprache entsprungenen, nunmehr allgemein giltigen ver- blieb, ja daſs nach seinen Reformvorschlägen für die Rechtschreibung in Österreich (1852), die Werthvolles zur Geschichte boten, unsre im sieb- zehnten und achtzehnten Jahrhundert geeinte neuhochdeutsche Schriftsprache mittelalterliche Normen rückläufig befolgen sollte: man habe nicht bloſs sintflut und eräugnen, sondern auch liecht, schepfer, lewe, wirdig, würken zu schreiben, also natürlich auch zu sprechen. Wo war ein Halt auf dieser schiefen Ebene pseudohistorischer Gebote? Mich hat freilich noch, als ich in Würzburg zu wirken versuchte, die Zeitschrift für deutsches Alterthum zu den Formen Wirzburg und würken gezwungen. Weinhold selbst lenkte bald ein. Er betrieb, während sein treutfleiſsiger Schüler Matthias Lexer sich ganz ausschlieſslich der Lexikographie widmete, Sammlungen zu einem steirischen Wörterbuch, die nun nach Graz heimgewandert sind wie die viel bedeutenderen zum schlesischen nach Breslau. Immer wieder ist Wein- hold bis in die allerletzte Zeit, wo er Temporalpartikeln selbst bei den heutigen Dialektdichtern mit philologischer Akribie beobachtete, mit klei- neren und gröſseren Beiträgen der Herkunft, den Urkunden, den Sitten, den Märchen, den Ortsnamen, dem Wortschatz und Sprachgebrauch seiner lieben Schlesier nachgegangen, deren Art und ein bischen Unart er als junger Forscher und an Holtei’s achtzigstem Geburtstage so klar gezeichnet hat, wie es nur ein unbefangener Landsmann vermag und darf. Aus dem ersten Studium der schlesischen Mundart erwuchs allgemach der Plan einer grammatischen Darstellung der groſsen Volksstämme Deutsch- lands. Weinhold brachte die Alemannische Grammatik beinah fertig nach Kiel mit und widmete sie Jacob Grimm in dessen Todesjahr; die Bairische, dem Andenken Schmeller’s zugeeignet, erschien vier Jahre später. Für diese gab es, obwohl Schmeller ja Österreich ausgeschlossen hatte, reiche Vorarbeit; jene muſste fast ganz aus dem Rohen herausgeholt werden. Auch unterlag die Scheidung der ältesten alemannischen von den bairischen Denkmälern groſsen, nicht auf den ersten Anhieb zu besiegenden Schwierig- keiten, deren Weinhold sich sehr wohl bewuſst war. In ein überkommenes Fachwerk ordnete sein eherner, entsagungsvoller Fleiſs die weitschichtigen Materialien zum Ausbau der Grimm’schen Grammatik und gab uns unent- behrliche Handbücher, ohne doch die Mainlinie zu überschreiten. Daran 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Digitalisate und OCR. (2020-03-03T12:13:05Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, OCR-D: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-03-04T12:13:05Z)

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.

  • Bogensignaturen: nicht übernommen;
  • Druckfehler: ignoriert;
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;
  • Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
  • Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;
  • I/J in Fraktur: wie Vorlage;
  • i/j in Fraktur: wie Vorlage;
  • Kolumnentitel: nicht übernommen;
  • Kustoden: nicht übernommen;
  • langes s (ſ): wie Vorlage;
  • Normalisierungen: keine;
  • rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
  • Seitenumbrüche markiert: ja;
  • Silbentrennung: wie Vorlage;
  • u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
  • Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
  • Vollständigkeit: vollständig erfasst;
  • Zeichensetzung: wie Vorlage;
  • Zeilenumbrüche markiert: ja;



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmidt_weinhold_1902
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmidt_weinhold_1902/13
Zitationshilfe: Schmidt, Erich: Gedächtnissrede auf Karl Weinhold. Berlin, 1902, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmidt_weinhold_1902/13>, abgerufen am 22.11.2024.