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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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gelischen Kirche ist sie nothwendig vorhanden. Und wie auf dem
Gebiete der Hermeneutik werden wir auch hier sagen müssen,
daß es für die neutest. Kritik keine andern Regeln gebe, als die
allgemeinen.

Die kritischen Fragen entstehen, weil eine Thatsache noch
nicht recht ausgemittelt war, oder weil sie verdunkelt worden.
Auf diese beiden Fälle läßt sich die Sache immer zurückführen.
Eine Thatsache auszumitteln, kann es im neutest. Gebiet keine
andern Regeln geben, als auf andern Gebieten.

Es kann bei der Ausmittlung von Thatsachen nur durch
zwei Elemente Entscheidung herbeigeführt werden. Einmal
durch Auctoritäten
. Sind diese vollständig und übereinstim-
mend, so ist die Frage auch vollständig entschieden. Stimmen
sie nicht zusammen, enthalten einige Contraindikationen, so ist
die Frage unentschieden. Sodann durch Analogien, wenn
man aus dem Sprachgebrauch und dem Gedankenverhältnisse für
und wider die Identität des Verfassers entscheidet. Giebt es nun
für beide eine andere Beurtheilung auf dem neutest. Gebiete, als
auf jedem andern?

Es giebt allerdings hier Auctoritäten von anderer Art, als
anderwärts. Dieß liegt in der Natur der kanonischen Schriften.
Diese haben ihre eigenthümliche Dignität, weil wir ihren Ver-
fassern eine eigenthümliche Auctorität zuschreiben, aber doch nur
auf dem Gebiet ihres eigenthümlichen Berufs.

Wenn in neutest. Schriften Alttestamentisches citirt wird auf
bestimmte Weise, etwa aus Jesaias, aus einer Region, von der
der Kritiker weiß, daß sie später ist und keine Weissagung, wird
da Jemand sagen wollen, weil Paulus jenen anführe, so sei jede
kritische Operation vergeblich? Wol Niemand jezt noch. -- Pau-
lus hat so citirt, weil ihm die Stelle unter dem Namen des
Jesaias gegeben war. Auf diesem Gebiete wird man also die
Auctorität des Paulus ablehnen. Eben so, wenn ein Psalm als
Davidisch citirt wird, den wir nicht dafür halten können. Wenn
aber der Fall wäre, daß zweifelhafte neutest. Schriften in andern

geliſchen Kirche iſt ſie nothwendig vorhanden. Und wie auf dem
Gebiete der Hermeneutik werden wir auch hier ſagen muͤſſen,
daß es fuͤr die neuteſt. Kritik keine andern Regeln gebe, als die
allgemeinen.

Die kritiſchen Fragen entſtehen, weil eine Thatſache noch
nicht recht ausgemittelt war, oder weil ſie verdunkelt worden.
Auf dieſe beiden Faͤlle laͤßt ſich die Sache immer zuruͤckfuͤhren.
Eine Thatſache auszumitteln, kann es im neuteſt. Gebiet keine
andern Regeln geben, als auf andern Gebieten.

Es kann bei der Ausmittlung von Thatſachen nur durch
zwei Elemente Entſcheidung herbeigefuͤhrt werden. Einmal
durch Auctoritaͤten
. Sind dieſe vollſtaͤndig und uͤbereinſtim-
mend, ſo iſt die Frage auch vollſtaͤndig entſchieden. Stimmen
ſie nicht zuſammen, enthalten einige Contraindikationen, ſo iſt
die Frage unentſchieden. Sodann durch Analogien, wenn
man aus dem Sprachgebrauch und dem Gedankenverhaͤltniſſe fuͤr
und wider die Identitaͤt des Verfaſſers entſcheidet. Giebt es nun
fuͤr beide eine andere Beurtheilung auf dem neuteſt. Gebiete, als
auf jedem andern?

Es giebt allerdings hier Auctoritaͤten von anderer Art, als
anderwaͤrts. Dieß liegt in der Natur der kanoniſchen Schriften.
Dieſe haben ihre eigenthuͤmliche Dignitaͤt, weil wir ihren Ver-
faſſern eine eigenthuͤmliche Auctoritaͤt zuſchreiben, aber doch nur
auf dem Gebiet ihres eigenthuͤmlichen Berufs.

Wenn in neuteſt. Schriften Altteſtamentiſches citirt wird auf
beſtimmte Weiſe, etwa aus Jeſaias, aus einer Region, von der
der Kritiker weiß, daß ſie ſpaͤter iſt und keine Weiſſagung, wird
da Jemand ſagen wollen, weil Paulus jenen anfuͤhre, ſo ſei jede
kritiſche Operation vergeblich? Wol Niemand jezt noch. — Pau-
lus hat ſo citirt, weil ihm die Stelle unter dem Namen des
Jeſaias gegeben war. Auf dieſem Gebiete wird man alſo die
Auctoritaͤt des Paulus ablehnen. Eben ſo, wenn ein Pſalm als
Davidiſch citirt wird, den wir nicht dafuͤr halten koͤnnen. Wenn
aber der Fall waͤre, daß zweifelhafte neuteſt. Schriften in andern

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[374/0398] geliſchen Kirche iſt ſie nothwendig vorhanden. Und wie auf dem Gebiete der Hermeneutik werden wir auch hier ſagen muͤſſen, daß es fuͤr die neuteſt. Kritik keine andern Regeln gebe, als die allgemeinen. Die kritiſchen Fragen entſtehen, weil eine Thatſache noch nicht recht ausgemittelt war, oder weil ſie verdunkelt worden. Auf dieſe beiden Faͤlle laͤßt ſich die Sache immer zuruͤckfuͤhren. Eine Thatſache auszumitteln, kann es im neuteſt. Gebiet keine andern Regeln geben, als auf andern Gebieten. Es kann bei der Ausmittlung von Thatſachen nur durch zwei Elemente Entſcheidung herbeigefuͤhrt werden. Einmal durch Auctoritaͤten. Sind dieſe vollſtaͤndig und uͤbereinſtim- mend, ſo iſt die Frage auch vollſtaͤndig entſchieden. Stimmen ſie nicht zuſammen, enthalten einige Contraindikationen, ſo iſt die Frage unentſchieden. Sodann durch Analogien, wenn man aus dem Sprachgebrauch und dem Gedankenverhaͤltniſſe fuͤr und wider die Identitaͤt des Verfaſſers entſcheidet. Giebt es nun fuͤr beide eine andere Beurtheilung auf dem neuteſt. Gebiete, als auf jedem andern? Es giebt allerdings hier Auctoritaͤten von anderer Art, als anderwaͤrts. Dieß liegt in der Natur der kanoniſchen Schriften. Dieſe haben ihre eigenthuͤmliche Dignitaͤt, weil wir ihren Ver- faſſern eine eigenthuͤmliche Auctoritaͤt zuſchreiben, aber doch nur auf dem Gebiet ihres eigenthuͤmlichen Berufs. Wenn in neuteſt. Schriften Altteſtamentiſches citirt wird auf beſtimmte Weiſe, etwa aus Jeſaias, aus einer Region, von der der Kritiker weiß, daß ſie ſpaͤter iſt und keine Weiſſagung, wird da Jemand ſagen wollen, weil Paulus jenen anfuͤhre, ſo ſei jede kritiſche Operation vergeblich? Wol Niemand jezt noch. — Pau- lus hat ſo citirt, weil ihm die Stelle unter dem Namen des Jeſaias gegeben war. Auf dieſem Gebiete wird man alſo die Auctoritaͤt des Paulus ablehnen. Eben ſo, wenn ein Pſalm als Davidiſch citirt wird, den wir nicht dafuͤr halten koͤnnen. Wenn aber der Fall waͤre, daß zweifelhafte neuteſt. Schriften in andern

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/398>, abgerufen am 05.05.2024.