können. Aber in jenem ersten Falle bleibt ein unbedingtes In- teresse, weil, um nichts zu vernachlässigen, das größte anzu- nehmen ist.
Auf dem Gebiete der classischen Litteratur lassen sich alle diese Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es im hohen Grade gleichgültig ist, wer ihr Verfasser ist, und die nur wichtig sind als Sprachdenkmale einer gewissen Zeit und Gegend. Die Schrift selbst ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr Verfasser gestanden, sowohl was die Sprache als den Inhalt be- trifft. Die Persönlichkeit ist dabei gleichgültig. Je mehr aber die Persönlichkeit in Sprache und Gegenstand verflochten ist, desto mehr wächst das Interesse der Frage.
Was nun das Neue Testament betrifft, so sind hier die kri- tischen Aufgaben dieser Art theils aus alter Zeit überliefert, theils neu entstanden, manche sind schon entschieden und wieder zwei- felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitläufige Ge- schichte der kritischen Bestrebungen.
Für einen römischkatholischen Theologen haben alle jene kri- tischen Fragen kein Interesse, denn der Kanon ist ein Werk der Kirche, und wie er in derselben überliefert ist, so hat er auch denselben Werth und dieselbe Auctorität der Unfehlbarkeit, wie die Tradition der Lehre. Es ist für den katholischen Theologen gleichgültig, ob er sagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf- genommen ist, folgt, daß er ein Brief Petri sei, oder ob er sagt, die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne sich zu bekümmern, ob er ein Werk des Petrus sei oder nicht. Der Brief hat auf jeden Fall kanonisches Ansehen, und da ist die kritische Frage ohne Interesse.
Diese Ansicht liegt aber ganz außer unserm Standpunkte, weil wir in der Kritik keine Auctorität der Kirche gelten lassen können. Freilich ist der Kanon überliefert, ohne daß wir wissen, wie er gerade so geworden. Aber wenn wir es auch wüßten, könnten wir ihn doch nicht ohne Prüfung annehmen. Denn da
Hermeneutik u. Kritik. 24
koͤnnen. Aber in jenem erſten Falle bleibt ein unbedingtes In- tereſſe, weil, um nichts zu vernachlaͤſſigen, das groͤßte anzu- nehmen iſt.
Auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur laſſen ſich alle dieſe Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es im hohen Grade gleichguͤltig iſt, wer ihr Verfaſſer iſt, und die nur wichtig ſind als Sprachdenkmale einer gewiſſen Zeit und Gegend. Die Schrift ſelbſt ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr Verfaſſer geſtanden, ſowohl was die Sprache als den Inhalt be- trifft. Die Perſoͤnlichkeit iſt dabei gleichguͤltig. Je mehr aber die Perſoͤnlichkeit in Sprache und Gegenſtand verflochten iſt, deſto mehr waͤchſt das Intereſſe der Frage.
Was nun das Neue Teſtament betrifft, ſo ſind hier die kri- tiſchen Aufgaben dieſer Art theils aus alter Zeit uͤberliefert, theils neu entſtanden, manche ſind ſchon entſchieden und wieder zwei- felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitlaͤufige Ge- ſchichte der kritiſchen Beſtrebungen.
Fuͤr einen roͤmiſchkatholiſchen Theologen haben alle jene kri- tiſchen Fragen kein Intereſſe, denn der Kanon iſt ein Werk der Kirche, und wie er in derſelben uͤberliefert iſt, ſo hat er auch denſelben Werth und dieſelbe Auctoritaͤt der Unfehlbarkeit, wie die Tradition der Lehre. Es iſt fuͤr den katholiſchen Theologen gleichguͤltig, ob er ſagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf- genommen iſt, folgt, daß er ein Brief Petri ſei, oder ob er ſagt, die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne ſich zu bekuͤmmern, ob er ein Werk des Petrus ſei oder nicht. Der Brief hat auf jeden Fall kanoniſches Anſehen, und da iſt die kritiſche Frage ohne Intereſſe.
Dieſe Anſicht liegt aber ganz außer unſerm Standpunkte, weil wir in der Kritik keine Auctoritaͤt der Kirche gelten laſſen koͤnnen. Freilich iſt der Kanon uͤberliefert, ohne daß wir wiſſen, wie er gerade ſo geworden. Aber wenn wir es auch wuͤßten, koͤnnten wir ihn doch nicht ohne Pruͤfung annehmen. Denn da
Hermeneutik u. Kritik. 24
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koͤnnen. Aber in jenem erſten Falle bleibt ein unbedingtes In-
tereſſe, weil, um nichts zu vernachlaͤſſigen, das groͤßte anzu-
nehmen iſt.
Auf dem Gebiete der claſſiſchen Litteratur laſſen ſich alle
dieſe Differenzen finden. Es giebt hier Schriften, bei denen es
im hohen Grade gleichguͤltig iſt, wer ihr Verfaſſer iſt, und die
nur wichtig ſind als Sprachdenkmale einer gewiſſen Zeit und
Gegend. Die Schrift ſelbſt ergiebt dann, auf welcher Stufe ihr
Verfaſſer geſtanden, ſowohl was die Sprache als den Inhalt be-
trifft. Die Perſoͤnlichkeit iſt dabei gleichguͤltig. Je mehr aber
die Perſoͤnlichkeit in Sprache und Gegenſtand verflochten iſt,
deſto mehr waͤchſt das Intereſſe der Frage.
Was nun das Neue Teſtament betrifft, ſo ſind hier die kri-
tiſchen Aufgaben dieſer Art theils aus alter Zeit uͤberliefert, theils
neu entſtanden, manche ſind ſchon entſchieden und wieder zwei-
felhaft gemacht worden. Wir haben hier eine weitlaͤufige Ge-
ſchichte der kritiſchen Beſtrebungen.
Fuͤr einen roͤmiſchkatholiſchen Theologen haben alle jene kri-
tiſchen Fragen kein Intereſſe, denn der Kanon iſt ein Werk der
Kirche, und wie er in derſelben uͤberliefert iſt, ſo hat er auch
denſelben Werth und dieſelbe Auctoritaͤt der Unfehlbarkeit, wie
die Tradition der Lehre. Es iſt fuͤr den katholiſchen Theologen
gleichguͤltig, ob er ſagt, daraus, daß der zweite Brief Petri auf-
genommen iſt, folgt, daß er ein Brief Petri ſei, oder ob er ſagt,
die Kirche hat den Brief aufgenommen, ohne ſich zu bekuͤmmern,
ob er ein Werk des Petrus ſei oder nicht. Der Brief hat auf
jeden Fall kanoniſches Anſehen, und da iſt die kritiſche Frage ohne
Intereſſe.
Dieſe Anſicht liegt aber ganz außer unſerm Standpunkte,
weil wir in der Kritik keine Auctoritaͤt der Kirche gelten laſſen
koͤnnen. Freilich iſt der Kanon uͤberliefert, ohne daß wir wiſſen,
wie er gerade ſo geworden. Aber wenn wir es auch wuͤßten,
koͤnnten wir ihn doch nicht ohne Pruͤfung annehmen. Denn da
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/393>, abgerufen am 22.12.2024.
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