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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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dem Verfasser an, so wird dadurch die Totalvorstellung von dem-
selben näher bestimmt, das Bild von seinem Leben, seiner Art,
vervollständigt. Wird dagegen eine einzelne Schrift einem Ver-
fasser beigelegt, von dem nichts anderes vorhanden ist, so kann
es ganz gleichgültig sein, ob er dieser oder jener ist. Es ist ge-
nug, das Zeitalter und den Kreis, worin die Schrift entstanden
ist, zu wissen. Es können aber auch bei einer einzelnen Schrift
Umstände, Beziehungen eintreten, wo auch für jene Frage wieder
Interesse entsteht. Habe ich z. B. eine philosophische Schrift,
deren Verfasser ich gar nicht oder nur zweifelhaft kenne, es sind
auch gar keine weiteren Bestimmungen vorhanden, so kann es mir
oft ganz gleichgültig sein, ob ihr Verfasser Simon oder Cebes
ist, weiß ich aber der eine von diesen hat mit dem, der andere
mit jenem Sokratiker in näherer Verbindung gestanden, und es
sind das Männer von großer Bedeutung, welche die Lehre des
Sokrates auf verschiedene Weise entwickelt haben, so ist ihre Per-
sönlichkeit wichtig, denn ihre Gedanken werden in das Gebiet der
einen oder andern Schule gehören, und also die genauere Kennt-
niß von ihnen dazu beitragen, den Begriff von jener Schule zu
vervollständigen. Eben so hat es ein Interesse, den Verfasser
eines historischen Werkes zu kennen, weil es hier darauf ankommt,
zu wissen, wie der Referent zu den Begebenheiten gestanden.
Wird sie einem Manne zugeschrieben, von dem ich weiß, daß er
zu der Zeit und in der Gegend der Begebenheiten gelebt hat,
so hat die Schrift eine Auctorität, die sie nicht haben würde,
wenn ein anderer aus später Zeit und aus einer andern Gegend
ihr Verfasser wäre. Weiß ich dagegen von des Verfassers Verhältnis-
sen zu den Begebenheiten nichts Näheres, so ist mir auch sein Name
gleichgültig. So ist also dieß Interesse jener Frage sehr verschie-
den. Aber noch eins ist zu merken. In dem Maaße, in wel-
chem die Kenntniß von der ganzen Region, in welche eine Schrift
gehört, noch nicht vollendet ist, kann man auch das Interesse
jener Frage noch nicht bestimmen. In einem sehr durchgearbeite-
ten Litteraturgebiet muß man das Interesse der Frage bestimmen

dem Verfaſſer an, ſo wird dadurch die Totalvorſtellung von dem-
ſelben naͤher beſtimmt, das Bild von ſeinem Leben, ſeiner Art,
vervollſtaͤndigt. Wird dagegen eine einzelne Schrift einem Ver-
faſſer beigelegt, von dem nichts anderes vorhanden iſt, ſo kann
es ganz gleichguͤltig ſein, ob er dieſer oder jener iſt. Es iſt ge-
nug, das Zeitalter und den Kreis, worin die Schrift entſtanden
iſt, zu wiſſen. Es koͤnnen aber auch bei einer einzelnen Schrift
Umſtaͤnde, Beziehungen eintreten, wo auch fuͤr jene Frage wieder
Intereſſe entſteht. Habe ich z. B. eine philoſophiſche Schrift,
deren Verfaſſer ich gar nicht oder nur zweifelhaft kenne, es ſind
auch gar keine weiteren Beſtimmungen vorhanden, ſo kann es mir
oft ganz gleichguͤltig ſein, ob ihr Verfaſſer Simon oder Cebes
iſt, weiß ich aber der eine von dieſen hat mit dem, der andere
mit jenem Sokratiker in naͤherer Verbindung geſtanden, und es
ſind das Maͤnner von großer Bedeutung, welche die Lehre des
Sokrates auf verſchiedene Weiſe entwickelt haben, ſo iſt ihre Per-
ſoͤnlichkeit wichtig, denn ihre Gedanken werden in das Gebiet der
einen oder andern Schule gehoͤren, und alſo die genauere Kennt-
niß von ihnen dazu beitragen, den Begriff von jener Schule zu
vervollſtaͤndigen. Eben ſo hat es ein Intereſſe, den Verfaſſer
eines hiſtoriſchen Werkes zu kennen, weil es hier darauf ankommt,
zu wiſſen, wie der Referent zu den Begebenheiten geſtanden.
Wird ſie einem Manne zugeſchrieben, von dem ich weiß, daß er
zu der Zeit und in der Gegend der Begebenheiten gelebt hat,
ſo hat die Schrift eine Auctoritaͤt, die ſie nicht haben wuͤrde,
wenn ein anderer aus ſpaͤter Zeit und aus einer andern Gegend
ihr Verfaſſer waͤre. Weiß ich dagegen von des Verfaſſers Verhaͤltniſ-
ſen zu den Begebenheiten nichts Naͤheres, ſo iſt mir auch ſein Name
gleichguͤltig. So iſt alſo dieß Intereſſe jener Frage ſehr verſchie-
den. Aber noch eins iſt zu merken. In dem Maaße, in wel-
chem die Kenntniß von der ganzen Region, in welche eine Schrift
gehoͤrt, noch nicht vollendet iſt, kann man auch das Intereſſe
jener Frage noch nicht beſtimmen. In einem ſehr durchgearbeite-
ten Litteraturgebiet muß man das Intereſſe der Frage beſtimmen

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[368/0392] dem Verfaſſer an, ſo wird dadurch die Totalvorſtellung von dem- ſelben naͤher beſtimmt, das Bild von ſeinem Leben, ſeiner Art, vervollſtaͤndigt. Wird dagegen eine einzelne Schrift einem Ver- faſſer beigelegt, von dem nichts anderes vorhanden iſt, ſo kann es ganz gleichguͤltig ſein, ob er dieſer oder jener iſt. Es iſt ge- nug, das Zeitalter und den Kreis, worin die Schrift entſtanden iſt, zu wiſſen. Es koͤnnen aber auch bei einer einzelnen Schrift Umſtaͤnde, Beziehungen eintreten, wo auch fuͤr jene Frage wieder Intereſſe entſteht. Habe ich z. B. eine philoſophiſche Schrift, deren Verfaſſer ich gar nicht oder nur zweifelhaft kenne, es ſind auch gar keine weiteren Beſtimmungen vorhanden, ſo kann es mir oft ganz gleichguͤltig ſein, ob ihr Verfaſſer Simon oder Cebes iſt, weiß ich aber der eine von dieſen hat mit dem, der andere mit jenem Sokratiker in naͤherer Verbindung geſtanden, und es ſind das Maͤnner von großer Bedeutung, welche die Lehre des Sokrates auf verſchiedene Weiſe entwickelt haben, ſo iſt ihre Per- ſoͤnlichkeit wichtig, denn ihre Gedanken werden in das Gebiet der einen oder andern Schule gehoͤren, und alſo die genauere Kennt- niß von ihnen dazu beitragen, den Begriff von jener Schule zu vervollſtaͤndigen. Eben ſo hat es ein Intereſſe, den Verfaſſer eines hiſtoriſchen Werkes zu kennen, weil es hier darauf ankommt, zu wiſſen, wie der Referent zu den Begebenheiten geſtanden. Wird ſie einem Manne zugeſchrieben, von dem ich weiß, daß er zu der Zeit und in der Gegend der Begebenheiten gelebt hat, ſo hat die Schrift eine Auctoritaͤt, die ſie nicht haben wuͤrde, wenn ein anderer aus ſpaͤter Zeit und aus einer andern Gegend ihr Verfaſſer waͤre. Weiß ich dagegen von des Verfaſſers Verhaͤltniſ- ſen zu den Begebenheiten nichts Naͤheres, ſo iſt mir auch ſein Name gleichguͤltig. So iſt alſo dieß Intereſſe jener Frage ſehr verſchie- den. Aber noch eins iſt zu merken. In dem Maaße, in wel- chem die Kenntniß von der ganzen Region, in welche eine Schrift gehoͤrt, noch nicht vollendet iſt, kann man auch das Intereſſe jener Frage noch nicht beſtimmen. In einem ſehr durchgearbeite- ten Litteraturgebiet muß man das Intereſſe der Frage beſtimmen

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/392>, abgerufen am 05.05.2024.