Wie muß die Sache stehen, wenn dergleichen eine eigentlich kritische Frage werden soll?
Der nächstliegende Fall ist der, wenn die Handschriften Ver- schiedenes über den Verfasser behaupten. Dann ist zu entscheiden, wie bei Lesearten. Hier ist aber ein großer Unterschied, ob die Behauptung in der Schrift selbst oder außerhalb gemacht ist. Wenn außerhalb, so ist ungewiß, ob die Überschrift ein Theil der Schrift in der ersten Ausgabe ist oder nicht. Ist das erstere ausgemacht, so ist die Frage wie alle kritischen Fragen zu ent- scheiden. Ist dagegen wahrscheinlich, daß die Überschrift später ist, so ist die Beurtheilung eine von der Schrift selbst zu sondernde Aufgabe. Ist die Überschrift ein bloßes Urtheil oder hat sie Aucto- ritäten für sich? Sobald die Frage sich so wendet, daß gefragt wird, ob die Überschrift als ein bloßes Urtheil angesehen werden kann, so hört sie auf eine kritische zu sein und gehört der histo- rischen Kritik an.
Allein kann denn jene Frage nicht auf eine andere Weise eine kritische werden?
Haben wir eine Schrift, welche sich in ihr selbst als Schrift eines gewissen Verfassers ausgiebt, es ist auch sonst kein Streit darüber, im Lesen aber stoßen wir auf solche Stellen, die uns schwer wird als Worte des Verfassers zu denken, so entstehen Zweifel, indem wir uns in der hermeneutischen Operation, die wir auf jene Voraussezung gründen, gestört fühlen. Da kommt es darauf an, von dem Interesse der hermeneutischen Operation aus über das Diplomatische zu entscheiden, ob es das Ursprüngliche ist oder nicht. Somit aber treten wir auf unser Gebiet. Nur von diesem Gesichtspunkt aus können wir die Sache erfassen. Das philologische Gebiet ist überall da, wo Schwierigkeiten oder Störungen in der hermeneutischen Operation zu heben oder diplomatische Entscheidungen zu geben sind.
Wie aber entstehen nun solche Zweifel, und wie gelangen wir zur Entscheidung? Wir müssen die Endpunkte aufsuchen,
Wie muß die Sache ſtehen, wenn dergleichen eine eigentlich kritiſche Frage werden ſoll?
Der naͤchſtliegende Fall iſt der, wenn die Handſchriften Ver- ſchiedenes uͤber den Verfaſſer behaupten. Dann iſt zu entſcheiden, wie bei Leſearten. Hier iſt aber ein großer Unterſchied, ob die Behauptung in der Schrift ſelbſt oder außerhalb gemacht iſt. Wenn außerhalb, ſo iſt ungewiß, ob die Überſchrift ein Theil der Schrift in der erſten Ausgabe iſt oder nicht. Iſt das erſtere ausgemacht, ſo iſt die Frage wie alle kritiſchen Fragen zu ent- ſcheiden. Iſt dagegen wahrſcheinlich, daß die Überſchrift ſpaͤter iſt, ſo iſt die Beurtheilung eine von der Schrift ſelbſt zu ſondernde Aufgabe. Iſt die Überſchrift ein bloßes Urtheil oder hat ſie Aucto- ritaͤten fuͤr ſich? Sobald die Frage ſich ſo wendet, daß gefragt wird, ob die Überſchrift als ein bloßes Urtheil angeſehen werden kann, ſo hoͤrt ſie auf eine kritiſche zu ſein und gehoͤrt der hiſto- riſchen Kritik an.
Allein kann denn jene Frage nicht auf eine andere Weiſe eine kritiſche werden?
Haben wir eine Schrift, welche ſich in ihr ſelbſt als Schrift eines gewiſſen Verfaſſers ausgiebt, es iſt auch ſonſt kein Streit daruͤber, im Leſen aber ſtoßen wir auf ſolche Stellen, die uns ſchwer wird als Worte des Verfaſſers zu denken, ſo entſtehen Zweifel, indem wir uns in der hermeneutiſchen Operation, die wir auf jene Vorausſezung gruͤnden, geſtoͤrt fuͤhlen. Da kommt es darauf an, von dem Intereſſe der hermeneutiſchen Operation aus uͤber das Diplomatiſche zu entſcheiden, ob es das Urſpruͤngliche iſt oder nicht. Somit aber treten wir auf unſer Gebiet. Nur von dieſem Geſichtspunkt aus koͤnnen wir die Sache erfaſſen. Das philologiſche Gebiet iſt uͤberall da, wo Schwierigkeiten oder Stoͤrungen in der hermeneutiſchen Operation zu heben oder diplomatiſche Entſcheidungen zu geben ſind.
Wie aber entſtehen nun ſolche Zweifel, und wie gelangen wir zur Entſcheidung? Wir muͤſſen die Endpunkte aufſuchen,
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Wie muß die Sache ſtehen, wenn dergleichen eine eigentlich
kritiſche Frage werden ſoll?
Der naͤchſtliegende Fall iſt der, wenn die Handſchriften Ver-
ſchiedenes uͤber den Verfaſſer behaupten. Dann iſt zu entſcheiden,
wie bei Leſearten. Hier iſt aber ein großer Unterſchied, ob die
Behauptung in der Schrift ſelbſt oder außerhalb gemacht iſt.
Wenn außerhalb, ſo iſt ungewiß, ob die Überſchrift ein Theil
der Schrift in der erſten Ausgabe iſt oder nicht. Iſt das erſtere
ausgemacht, ſo iſt die Frage wie alle kritiſchen Fragen zu ent-
ſcheiden. Iſt dagegen wahrſcheinlich, daß die Überſchrift ſpaͤter iſt,
ſo iſt die Beurtheilung eine von der Schrift ſelbſt zu ſondernde
Aufgabe. Iſt die Überſchrift ein bloßes Urtheil oder hat ſie Aucto-
ritaͤten fuͤr ſich? Sobald die Frage ſich ſo wendet, daß gefragt
wird, ob die Überſchrift als ein bloßes Urtheil angeſehen werden
kann, ſo hoͤrt ſie auf eine kritiſche zu ſein und gehoͤrt der hiſto-
riſchen Kritik an.
Allein kann denn jene Frage nicht auf eine andere Weiſe
eine kritiſche werden?
Haben wir eine Schrift, welche ſich in ihr ſelbſt als Schrift
eines gewiſſen Verfaſſers ausgiebt, es iſt auch ſonſt kein
Streit daruͤber, im Leſen aber ſtoßen wir auf ſolche Stellen,
die uns ſchwer wird als Worte des Verfaſſers zu denken, ſo
entſtehen Zweifel, indem wir uns in der hermeneutiſchen Operation,
die wir auf jene Vorausſezung gruͤnden, geſtoͤrt fuͤhlen. Da
kommt es darauf an, von dem Intereſſe der hermeneutiſchen
Operation aus uͤber das Diplomatiſche zu entſcheiden, ob es das
Urſpruͤngliche iſt oder nicht. Somit aber treten wir auf unſer
Gebiet. Nur von dieſem Geſichtspunkt aus koͤnnen wir die
Sache erfaſſen. Das philologiſche Gebiet iſt uͤberall da, wo
Schwierigkeiten oder Stoͤrungen in der hermeneutiſchen Operation
zu heben oder diplomatiſche Entſcheidungen zu geben ſind.
Wie aber entſtehen nun ſolche Zweifel, und wie gelangen
wir zur Entſcheidung? Wir muͤſſen die Endpunkte aufſuchen,
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/381>, abgerufen am 22.12.2024.
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