rechte Weise das Gebiet der Analogien erweitert, so kann man daraus Hülfe nehmen. Denn es kann Fälle geben, wo der ur- sprüngliche Text dem classischen Gebiete näher liegt, das Unzu- verlässige dagegen dem neutest. Sprachgebrauch.
Gesezt nun, man machte Versuche, Stellen, welche durch urkundliche Kritik nicht zu heilen sind, durch die divinatorische herzustellen, wie weit geht der Gebrauch der Vermuthung?
Die eigenthümliche normale Dignität des N. T. schreibt dabei ganz besondere Grenzen vor, macht ausgezeichnete Vorsicht noth- wendig. Es ist, wie schon gesagt, von solchen Emendationen immer nur ein negativer, kein positiver Gebrauch zu machen, und gar nicht der Fall, daß, wie man oft gedacht hat, mit der Art, den Text einiger Stellen zu constituiren, gewisse Lehren stehen oder fallen. Man kann nicht voraussezen, daß Vorstellungen, die sich erst in theologischen Streitigkeiten gebildet, schon so im N. T. enthalten sein sollten. Dann wären sie ja auch in das allgemein christliche Bewußtsein übergegangen, und die entgegen- gesezten hätten sich dann gar nicht können geltend machen. Nur der Fall kann vorkommen, daß ich sage, wenn ich die Stelle so lese, so kann ich sie als Zeugniß gebrauchen für die und die dog- matische Vorstellung, wenn aber so, dann nicht. Aber nicht werde ich sie dann dagegen anführen können. Der eigentliche Werth der verschiedenen Lesearten in Beziehung auf den dogma- tischen Gebrauch ist nur der, daß die eine einen bestimmten Ge- brauch zuläßt, die andere nicht. Übrigens aber kann nie eine we- sentliche Lehre auf einer einzelnen Stelle beruhen. Was gar keinen Halt hätte, als in der Art, wie eine einzelne isolirte Stelle gele- sen würde, könnte doch nicht wesentlicher Gegenstand des christ- lichen Glaubens sein. Dadurch wird der Werth der divinatori- schen Kritik freilich beschränkt, aber wir können ihr uns um so zuversichtlicher hingeben, da es niemals diese eine Stelle ist, welche dem dogmatischen Interesse wesentlich nüzen oder scha- den wird.
Ein wichtiger Punkt, der nicht außer Acht zu lassen ist, ist
rechte Weiſe das Gebiet der Analogien erweitert, ſo kann man daraus Huͤlfe nehmen. Denn es kann Faͤlle geben, wo der ur- ſpruͤngliche Text dem claſſiſchen Gebiete naͤher liegt, das Unzu- verlaͤſſige dagegen dem neuteſt. Sprachgebrauch.
Geſezt nun, man machte Verſuche, Stellen, welche durch urkundliche Kritik nicht zu heilen ſind, durch die divinatoriſche herzuſtellen, wie weit geht der Gebrauch der Vermuthung?
Die eigenthuͤmliche normale Dignitaͤt des N. T. ſchreibt dabei ganz beſondere Grenzen vor, macht ausgezeichnete Vorſicht noth- wendig. Es iſt, wie ſchon geſagt, von ſolchen Emendationen immer nur ein negativer, kein poſitiver Gebrauch zu machen, und gar nicht der Fall, daß, wie man oft gedacht hat, mit der Art, den Text einiger Stellen zu conſtituiren, gewiſſe Lehren ſtehen oder fallen. Man kann nicht vorausſezen, daß Vorſtellungen, die ſich erſt in theologiſchen Streitigkeiten gebildet, ſchon ſo im N. T. enthalten ſein ſollten. Dann waͤren ſie ja auch in das allgemein chriſtliche Bewußtſein uͤbergegangen, und die entgegen- geſezten haͤtten ſich dann gar nicht koͤnnen geltend machen. Nur der Fall kann vorkommen, daß ich ſage, wenn ich die Stelle ſo leſe, ſo kann ich ſie als Zeugniß gebrauchen fuͤr die und die dog- matiſche Vorſtellung, wenn aber ſo, dann nicht. Aber nicht werde ich ſie dann dagegen anfuͤhren koͤnnen. Der eigentliche Werth der verſchiedenen Leſearten in Beziehung auf den dogma- tiſchen Gebrauch iſt nur der, daß die eine einen beſtimmten Ge- brauch zulaͤßt, die andere nicht. Übrigens aber kann nie eine we- ſentliche Lehre auf einer einzelnen Stelle beruhen. Was gar keinen Halt haͤtte, als in der Art, wie eine einzelne iſolirte Stelle gele- ſen wuͤrde, koͤnnte doch nicht weſentlicher Gegenſtand des chriſt- lichen Glaubens ſein. Dadurch wird der Werth der divinatori- ſchen Kritik freilich beſchraͤnkt, aber wir koͤnnen ihr uns um ſo zuverſichtlicher hingeben, da es niemals dieſe eine Stelle iſt, welche dem dogmatiſchen Intereſſe weſentlich nuͤzen oder ſcha- den wird.
Ein wichtiger Punkt, der nicht außer Acht zu laſſen iſt, iſt
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rechte Weiſe das Gebiet der Analogien erweitert, ſo kann man
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ſpruͤngliche Text dem claſſiſchen Gebiete naͤher liegt, das Unzu-
verlaͤſſige dagegen dem neuteſt. Sprachgebrauch.
Geſezt nun, man machte Verſuche, Stellen, welche durch
urkundliche Kritik nicht zu heilen ſind, durch die divinatoriſche
herzuſtellen, wie weit geht der Gebrauch der Vermuthung?
Die eigenthuͤmliche normale Dignitaͤt des N. T. ſchreibt dabei
ganz beſondere Grenzen vor, macht ausgezeichnete Vorſicht noth-
wendig. Es iſt, wie ſchon geſagt, von ſolchen Emendationen
immer nur ein negativer, kein poſitiver Gebrauch zu machen, und
gar nicht der Fall, daß, wie man oft gedacht hat, mit der Art,
den Text einiger Stellen zu conſtituiren, gewiſſe Lehren ſtehen
oder fallen. Man kann nicht vorausſezen, daß Vorſtellungen,
die ſich erſt in theologiſchen Streitigkeiten gebildet, ſchon ſo im
N. T. enthalten ſein ſollten. Dann waͤren ſie ja auch in das
allgemein chriſtliche Bewußtſein uͤbergegangen, und die entgegen-
geſezten haͤtten ſich dann gar nicht koͤnnen geltend machen. Nur
der Fall kann vorkommen, daß ich ſage, wenn ich die Stelle ſo
leſe, ſo kann ich ſie als Zeugniß gebrauchen fuͤr die und die dog-
matiſche Vorſtellung, wenn aber ſo, dann nicht. Aber nicht
werde ich ſie dann dagegen anfuͤhren koͤnnen. Der eigentliche
Werth der verſchiedenen Leſearten in Beziehung auf den dogma-
tiſchen Gebrauch iſt nur der, daß die eine einen beſtimmten Ge-
brauch zulaͤßt, die andere nicht. Übrigens aber kann nie eine we-
ſentliche Lehre auf einer einzelnen Stelle beruhen. Was gar keinen
Halt haͤtte, als in der Art, wie eine einzelne iſolirte Stelle gele-
ſen wuͤrde, koͤnnte doch nicht weſentlicher Gegenſtand des chriſt-
lichen Glaubens ſein. Dadurch wird der Werth der divinatori-
ſchen Kritik freilich beſchraͤnkt, aber wir koͤnnen ihr uns um ſo
zuverſichtlicher hingeben, da es niemals dieſe eine Stelle iſt,
welche dem dogmatiſchen Intereſſe weſentlich nuͤzen oder ſcha-
den wird.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/372>, abgerufen am 22.12.2024.
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