sein, der die Vervielfältigung leitete. Aber es konnte kein Inte- resse für ihn haben, die Änderung in fremde Exemplare zu brin- gen, wenn auch in sein eigenes. Das größere Interesse für den Abschreiber, der mit Abschriften ein Gewerbe trieb, war, sei- nen Credit zu erhalten durch zuverlässige Abschriften. Der Ein- zelne, der die Änderung in seinem Exemplare machte, was konnte der mit seinem einen Exemplare bewirken? Es wäre eine Absicht auf unbestimmten Erfolg gewesen, da an eine verbreitete Bekannt- schaft seiner Änderung vielleicht erst spät zu denken war. So weiß man nicht recht, wie man sich eine solche pia fraus zu den- ken habe. Dasselbe muß man sagen von den absichtlichen Ver- fälschungen durch Orthodoxie oder Heterodoxie. Die Abschreiber waren als solche gar nicht in die kirchlichen Streitigkeiten ver- flochten. Wer in den Streit verflochten war, konnte sagen, ich lese so und dieß ließ sich denken. Aber daß das sollte in das Ge- werbe der Vervielfältigung durch Abschriften gekommen sein, ist nicht gut denkbar. Denn bei der Art, wie man früh anfing, die theol. Streitpunkte zu behandeln, kam es wenig darauf an, wie eine einzelne Stelle gelesen wurde. Man hatte eine ganz andere Art zu argumentiren, als jezt. Für diese fand man immer Stel- len, ohne daß man nöthig hatte, in eine bestimmte Stelle die entsprechenden Ausdrücke hineinzubringen. Dazu kommt, daß das Meiste dieser Art sich recht gut aus mechanischen Irrungen er- klären läßt. Wo beide Arten von Veränderungen möglich sind, muß man die Erklärung aus mechanischen Irrungen immer zu- erst versuchen, weil sich diese überwiegend aufdringt.
Eine andere Regel Griesbachs ist die, daß, wenn von zwei Lesearten die eine einen leichten richtigen Sinn giebt, die andere auf den ersten Anblick einen schweren oder falschen, der sich aber genauer betrachtet, rechtfertigt, die leztere vorzuziehen sei. Da denkt man sich also nachdenkende Abschreiber. Wenn keine andere Er- klärung der Änderung als durch Absicht möglich ist, so ist die Regel allerdings richtig, es müßte denn eine absichtliche Änderung gegen den Verfasser der Schrift angenommen werden. Aber
ſein, der die Vervielfaͤltigung leitete. Aber es konnte kein Inte- reſſe fuͤr ihn haben, die Änderung in fremde Exemplare zu brin- gen, wenn auch in ſein eigenes. Das groͤßere Intereſſe fuͤr den Abſchreiber, der mit Abſchriften ein Gewerbe trieb, war, ſei- nen Credit zu erhalten durch zuverlaͤſſige Abſchriften. Der Ein- zelne, der die Änderung in ſeinem Exemplare machte, was konnte der mit ſeinem einen Exemplare bewirken? Es waͤre eine Abſicht auf unbeſtimmten Erfolg geweſen, da an eine verbreitete Bekannt- ſchaft ſeiner Änderung vielleicht erſt ſpaͤt zu denken war. So weiß man nicht recht, wie man ſich eine ſolche pia fraus zu den- ken habe. Daſſelbe muß man ſagen von den abſichtlichen Ver- faͤlſchungen durch Orthodoxie oder Heterodoxie. Die Abſchreiber waren als ſolche gar nicht in die kirchlichen Streitigkeiten ver- flochten. Wer in den Streit verflochten war, konnte ſagen, ich leſe ſo und dieß ließ ſich denken. Aber daß das ſollte in das Ge- werbe der Vervielfaͤltigung durch Abſchriften gekommen ſein, iſt nicht gut denkbar. Denn bei der Art, wie man fruͤh anfing, die theol. Streitpunkte zu behandeln, kam es wenig darauf an, wie eine einzelne Stelle geleſen wurde. Man hatte eine ganz andere Art zu argumentiren, als jezt. Fuͤr dieſe fand man immer Stel- len, ohne daß man noͤthig hatte, in eine beſtimmte Stelle die entſprechenden Ausdruͤcke hineinzubringen. Dazu kommt, daß das Meiſte dieſer Art ſich recht gut aus mechaniſchen Irrungen er- klaͤren laͤßt. Wo beide Arten von Veraͤnderungen moͤglich ſind, muß man die Erklaͤrung aus mechaniſchen Irrungen immer zu- erſt verſuchen, weil ſich dieſe uͤberwiegend aufdringt.
Eine andere Regel Griesbachs iſt die, daß, wenn von zwei Leſearten die eine einen leichten richtigen Sinn giebt, die andere auf den erſten Anblick einen ſchweren oder falſchen, der ſich aber genauer betrachtet, rechtfertigt, die leztere vorzuziehen ſei. Da denkt man ſich alſo nachdenkende Abſchreiber. Wenn keine andere Er- klaͤrung der Änderung als durch Abſicht moͤglich iſt, ſo iſt die Regel allerdings richtig, es muͤßte denn eine abſichtliche Änderung gegen den Verfaſſer der Schrift angenommen werden. Aber
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gen, wenn auch in ſein eigenes. Das groͤßere Intereſſe fuͤr
den Abſchreiber, der mit Abſchriften ein Gewerbe trieb, war, ſei-
nen Credit zu erhalten durch zuverlaͤſſige Abſchriften. Der Ein-
zelne, der die Änderung in ſeinem Exemplare machte, was konnte
der mit ſeinem einen Exemplare bewirken? Es waͤre eine Abſicht
auf unbeſtimmten Erfolg geweſen, da an eine verbreitete Bekannt-
ſchaft ſeiner Änderung vielleicht erſt ſpaͤt zu denken war. So
weiß man nicht recht, wie man ſich eine ſolche pia fraus zu den-
ken habe. Daſſelbe muß man ſagen von den abſichtlichen Ver-
faͤlſchungen durch Orthodoxie oder Heterodoxie. Die Abſchreiber
waren als ſolche gar nicht in die kirchlichen Streitigkeiten ver-
flochten. Wer in den Streit verflochten war, konnte ſagen, ich
leſe ſo und dieß ließ ſich denken. Aber daß das ſollte in das Ge-
werbe der Vervielfaͤltigung durch Abſchriften gekommen ſein, iſt
nicht gut denkbar. Denn bei der Art, wie man fruͤh anfing, die
theol. Streitpunkte zu behandeln, kam es wenig darauf an, wie
eine einzelne Stelle geleſen wurde. Man hatte eine ganz andere
Art zu argumentiren, als jezt. Fuͤr dieſe fand man immer Stel-
len, ohne daß man noͤthig hatte, in eine beſtimmte Stelle die
entſprechenden Ausdruͤcke hineinzubringen. Dazu kommt, daß das
Meiſte dieſer Art ſich recht gut aus mechaniſchen Irrungen er-
klaͤren laͤßt. Wo beide Arten von Veraͤnderungen moͤglich ſind,
muß man die Erklaͤrung aus mechaniſchen Irrungen immer zu-
erſt verſuchen, weil ſich dieſe uͤberwiegend aufdringt.
Eine andere Regel Griesbachs iſt die, daß, wenn von zwei
Leſearten die eine einen leichten richtigen Sinn giebt, die andere
auf den erſten Anblick einen ſchweren oder falſchen, der ſich aber
genauer betrachtet, rechtfertigt, die leztere vorzuziehen ſei. Da denkt
man ſich alſo nachdenkende Abſchreiber. Wenn keine andere Er-
klaͤrung der Änderung als durch Abſicht moͤglich iſt, ſo iſt die
Regel allerdings richtig, es muͤßte denn eine abſichtliche Änderung
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/354>, abgerufen am 22.12.2024.
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