Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

In welchem Falle können nun absichtliche Änderungen ent-
stehen?

Wir unterscheiden dabei gute und böse Absicht. Die gute
ist, einen gemachten Fehler wieder gut zu machen, das Ächte
wieder herzustellen. Eine solche Änderung ist eine kritische Opera-
tion. Wie ist dieser Fall zu behandeln? Verschieden, je nachdem
man sich auf den einfachen hermeneutischen oder den allgemeinen
philologischen Standpunkt stellt.

Hat ein Schriftsteller sich nicht genau grammatisch ausge-
drückt, oder einen unangemessenen Ausdruck gebraucht, ein An-
derer aber hat das verbessert, so können wir dieß für die hermeneuti-
sche Aufgabe recipiren als Verbesserung. Wir können sagen, der
Verfasser habe wol nur das Schlechtere gewählt, weil ihm nichts
besseres zur Hand war, die Verbesserung hat also den eigentlichen
Sinn des Verfassers getroffen.

Anders von dem allgemeinen philologischen Standpunkte.
Von diesem aus müssen wir die Hand des Verfassers in voll-
ständigster Reinheit und Ursprünglichkeit zu erhalten suchen; sonst
entziehen wir uns die Materialien zu einem bestimmten Urtheil
über den Schriftsteller und die Sprachbehandlung seiner Zeit und
Gegend. Es kann sich ergeben, daß das, was geändert, schein-
bar verbessert worden ist, keine grammatische Irrung, sondern
Sprachgebrauch der Zeit und Gegend ist.

Was nun die Änderung aus böser Absicht betrifft, so ist
bedeutend zu unterscheiden. Es kann sehr bestimmte Tendenzen
geben, die nicht böse gegen den Verfasser gemeint sind, aber auch
solche, die dieß sind.

Es kann Jemand die Aussagen und Ausdrücke eines Schrift-
stellers verändern, wenn er glaubt Besseres zu wissen, als der
Autor. Bei historischen Gegenständen läßt sich dieß recht gut
denken. So wie ich weiß, der Irrthum war nicht ein momen-
tanes Verfahren, sondern die bestimmte Auffassungsweise des
Autors, so geschieht die Änderung aus keiner guten Absicht gegen
den Autor. Das Werk wird alterirt und das Ursprüngliche nicht

In welchem Falle koͤnnen nun abſichtliche Änderungen ent-
ſtehen?

Wir unterſcheiden dabei gute und boͤſe Abſicht. Die gute
iſt, einen gemachten Fehler wieder gut zu machen, das Ächte
wieder herzuſtellen. Eine ſolche Änderung iſt eine kritiſche Opera-
tion. Wie iſt dieſer Fall zu behandeln? Verſchieden, je nachdem
man ſich auf den einfachen hermeneutiſchen oder den allgemeinen
philologiſchen Standpunkt ſtellt.

Hat ein Schriftſteller ſich nicht genau grammatiſch ausge-
druͤckt, oder einen unangemeſſenen Ausdruck gebraucht, ein An-
derer aber hat das verbeſſert, ſo koͤnnen wir dieß fuͤr die hermeneuti-
ſche Aufgabe recipiren als Verbeſſerung. Wir koͤnnen ſagen, der
Verfaſſer habe wol nur das Schlechtere gewaͤhlt, weil ihm nichts
beſſeres zur Hand war, die Verbeſſerung hat alſo den eigentlichen
Sinn des Verfaſſers getroffen.

Anders von dem allgemeinen philologiſchen Standpunkte.
Von dieſem aus muͤſſen wir die Hand des Verfaſſers in voll-
ſtaͤndigſter Reinheit und Urſpruͤnglichkeit zu erhalten ſuchen; ſonſt
entziehen wir uns die Materialien zu einem beſtimmten Urtheil
uͤber den Schriftſteller und die Sprachbehandlung ſeiner Zeit und
Gegend. Es kann ſich ergeben, daß das, was geaͤndert, ſchein-
bar verbeſſert worden iſt, keine grammatiſche Irrung, ſondern
Sprachgebrauch der Zeit und Gegend iſt.

Was nun die Änderung aus boͤſer Abſicht betrifft, ſo iſt
bedeutend zu unterſcheiden. Es kann ſehr beſtimmte Tendenzen
geben, die nicht boͤſe gegen den Verfaſſer gemeint ſind, aber auch
ſolche, die dieß ſind.

Es kann Jemand die Ausſagen und Ausdruͤcke eines Schrift-
ſtellers veraͤndern, wenn er glaubt Beſſeres zu wiſſen, als der
Autor. Bei hiſtoriſchen Gegenſtaͤnden laͤßt ſich dieß recht gut
denken. So wie ich weiß, der Irrthum war nicht ein momen-
tanes Verfahren, ſondern die beſtimmte Auffaſſungsweiſe des
Autors, ſo geſchieht die Änderung aus keiner guten Abſicht gegen
den Autor. Das Werk wird alterirt und das Urſpruͤngliche nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0351" n="327"/>
            <p>In welchem Falle ko&#x0364;nnen nun ab&#x017F;ichtliche Änderungen ent-<lb/>
&#x017F;tehen?</p><lb/>
            <p>Wir unter&#x017F;cheiden dabei gute und bo&#x0364;&#x017F;e Ab&#x017F;icht. Die gute<lb/>
i&#x017F;t, einen gemachten Fehler wieder gut zu machen, das Ächte<lb/>
wieder herzu&#x017F;tellen. Eine &#x017F;olche Änderung i&#x017F;t eine kriti&#x017F;che Opera-<lb/>
tion. Wie i&#x017F;t die&#x017F;er Fall zu behandeln? Ver&#x017F;chieden, je nachdem<lb/>
man &#x017F;ich auf den einfachen hermeneuti&#x017F;chen oder den allgemeinen<lb/>
philologi&#x017F;chen Standpunkt &#x017F;tellt.</p><lb/>
            <p>Hat ein Schrift&#x017F;teller &#x017F;ich nicht genau grammati&#x017F;ch ausge-<lb/>
dru&#x0364;ckt, oder einen unangeme&#x017F;&#x017F;enen Ausdruck gebraucht, ein An-<lb/>
derer aber hat das verbe&#x017F;&#x017F;ert, &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir dieß fu&#x0364;r die hermeneuti-<lb/>
&#x017F;che Aufgabe recipiren als Verbe&#x017F;&#x017F;erung. Wir ko&#x0364;nnen &#x017F;agen, der<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;er habe wol nur das Schlechtere gewa&#x0364;hlt, weil ihm nichts<lb/>
be&#x017F;&#x017F;eres zur Hand war, die Verbe&#x017F;&#x017F;erung hat al&#x017F;o den eigentlichen<lb/>
Sinn des Verfa&#x017F;&#x017F;ers getroffen.</p><lb/>
            <p>Anders von dem allgemeinen philologi&#x017F;chen Standpunkte.<lb/>
Von die&#x017F;em aus mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die Hand des Verfa&#x017F;&#x017F;ers in voll-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;ter Reinheit und Ur&#x017F;pru&#x0364;nglichkeit zu erhalten &#x017F;uchen; &#x017F;on&#x017F;t<lb/>
entziehen wir uns die Materialien zu einem be&#x017F;timmten Urtheil<lb/>
u&#x0364;ber den Schrift&#x017F;teller und die Sprachbehandlung &#x017F;einer Zeit und<lb/>
Gegend. Es kann &#x017F;ich ergeben, daß das, was gea&#x0364;ndert, &#x017F;chein-<lb/>
bar verbe&#x017F;&#x017F;ert worden i&#x017F;t, keine grammati&#x017F;che Irrung, &#x017F;ondern<lb/>
Sprachgebrauch der Zeit und Gegend i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Was nun die Änderung aus bo&#x0364;&#x017F;er Ab&#x017F;icht betrifft, &#x017F;o i&#x017F;t<lb/>
bedeutend zu unter&#x017F;cheiden. Es kann &#x017F;ehr be&#x017F;timmte Tendenzen<lb/>
geben, die nicht bo&#x0364;&#x017F;e gegen den Verfa&#x017F;&#x017F;er gemeint &#x017F;ind, aber auch<lb/>
&#x017F;olche, die dieß &#x017F;ind.</p><lb/>
            <p>Es kann Jemand die Aus&#x017F;agen und Ausdru&#x0364;cke eines Schrift-<lb/>
&#x017F;tellers vera&#x0364;ndern, wenn er glaubt Be&#x017F;&#x017F;eres zu wi&#x017F;&#x017F;en, als der<lb/>
Autor. Bei hi&#x017F;tori&#x017F;chen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden la&#x0364;ßt &#x017F;ich dieß recht gut<lb/>
denken. So wie ich weiß, der Irrthum war nicht ein momen-<lb/>
tanes Verfahren, &#x017F;ondern die be&#x017F;timmte Auffa&#x017F;&#x017F;ungswei&#x017F;e des<lb/>
Autors, &#x017F;o ge&#x017F;chieht die Änderung aus keiner guten Ab&#x017F;icht gegen<lb/>
den Autor. Das Werk wird alterirt und das Ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche nicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[327/0351] In welchem Falle koͤnnen nun abſichtliche Änderungen ent- ſtehen? Wir unterſcheiden dabei gute und boͤſe Abſicht. Die gute iſt, einen gemachten Fehler wieder gut zu machen, das Ächte wieder herzuſtellen. Eine ſolche Änderung iſt eine kritiſche Opera- tion. Wie iſt dieſer Fall zu behandeln? Verſchieden, je nachdem man ſich auf den einfachen hermeneutiſchen oder den allgemeinen philologiſchen Standpunkt ſtellt. Hat ein Schriftſteller ſich nicht genau grammatiſch ausge- druͤckt, oder einen unangemeſſenen Ausdruck gebraucht, ein An- derer aber hat das verbeſſert, ſo koͤnnen wir dieß fuͤr die hermeneuti- ſche Aufgabe recipiren als Verbeſſerung. Wir koͤnnen ſagen, der Verfaſſer habe wol nur das Schlechtere gewaͤhlt, weil ihm nichts beſſeres zur Hand war, die Verbeſſerung hat alſo den eigentlichen Sinn des Verfaſſers getroffen. Anders von dem allgemeinen philologiſchen Standpunkte. Von dieſem aus muͤſſen wir die Hand des Verfaſſers in voll- ſtaͤndigſter Reinheit und Urſpruͤnglichkeit zu erhalten ſuchen; ſonſt entziehen wir uns die Materialien zu einem beſtimmten Urtheil uͤber den Schriftſteller und die Sprachbehandlung ſeiner Zeit und Gegend. Es kann ſich ergeben, daß das, was geaͤndert, ſchein- bar verbeſſert worden iſt, keine grammatiſche Irrung, ſondern Sprachgebrauch der Zeit und Gegend iſt. Was nun die Änderung aus boͤſer Abſicht betrifft, ſo iſt bedeutend zu unterſcheiden. Es kann ſehr beſtimmte Tendenzen geben, die nicht boͤſe gegen den Verfaſſer gemeint ſind, aber auch ſolche, die dieß ſind. Es kann Jemand die Ausſagen und Ausdruͤcke eines Schrift- ſtellers veraͤndern, wenn er glaubt Beſſeres zu wiſſen, als der Autor. Bei hiſtoriſchen Gegenſtaͤnden laͤßt ſich dieß recht gut denken. So wie ich weiß, der Irrthum war nicht ein momen- tanes Verfahren, ſondern die beſtimmte Auffaſſungsweiſe des Autors, ſo geſchieht die Änderung aus keiner guten Abſicht gegen den Autor. Das Werk wird alterirt und das Urſpruͤngliche nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/351
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/351>, abgerufen am 22.12.2024.