Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

voraus, bei einem durchgearbeiteten Texte nicht so, und bin hier
also bestochen. Also man muß den Text einer Handschrift zum
Grunde legen und die Abweichungen mit Bezeichnung des Ortes,
woher sie genommen sind, als kritischen Apparat hinzufügen. --
Um die kritische Aufgabe richtig zu lösen, müssen bessere Ausga-
ben gegeben werden, in denen der Text ganz von neuem revidirt
worden ist.

Ferner ist zu bemerken, daß alle absichtlichen Vergleichungen
verschiedener Handschriften, wie sie in den kritischen Apparat ein-
gegangen sind, gar nicht für vollständig angesehen werden können.
Gerade bei der Eigenthümlichkeit des N. T. ist eine Ungleichför-
migkeit entstanden, die sonst nicht leicht auf einem andern Gebiete
vorkommen kann. Wie viele Stellen sind nicht bloß hermeneu-
tisch, sondern auch dogmatisch streitig! So ist's gekommen,
daß man oft nur solche Stellen verglichen hat, die dogmatisches
Interesse haben. Auf die Weise entsteht eine unvollständige Ver-
gleichung und Vorstellung von der Beschaffenheit der Handschriften.

Allerdings haben wir bei dem N. T. den Vortheil, daß ein-
zelne Handschriften ganz als Facsimile abgedruckt sind. Allein
diese Abdrücke sind nicht Allen zugänglich und sehr kostbar. Schon
ihres großen Volumens wegen eignen sie sich nicht zum tägli-
chen Gebrauch und bei dem eigentlichen Lesen hat man sie nicht
zur Hand.

Betrachten wir die bisher am meisten gebrauchten Handausga-
ben des N. T., so hat in einigen der Herausgeber sein Urtheil vom
Texte ganz gesondert. So in der Wetsteinschen Ausgabe. Wetstein
hat, was ihm an dem hergebrachten Text fehlerhaft dünkte und
was er für Besseres hielt, besonders bezeichnet. Noch weiter ging
Griesbach, der was er Besseres aufgenommen hat, durch die Schrift
unterschieden und das Alte in den inneren Rand gestellt hat.
Hier fällt die Bestechung des Auges allerdings bis auf einen ge-
wissen Punkt weg, aber doch nur zu Gunsten des alten Textes,
dem gar keine Auctorität zum Grunde liegt. Ja selbst bei Gries-
bach geht die Superstition in Beziehung auf den gemeinen Text

Hermeneutik u. Kritik. 20

voraus, bei einem durchgearbeiteten Texte nicht ſo, und bin hier
alſo beſtochen. Alſo man muß den Text einer Handſchrift zum
Grunde legen und die Abweichungen mit Bezeichnung des Ortes,
woher ſie genommen ſind, als kritiſchen Apparat hinzufuͤgen. —
Um die kritiſche Aufgabe richtig zu loͤſen, muͤſſen beſſere Ausga-
ben gegeben werden, in denen der Text ganz von neuem revidirt
worden iſt.

Ferner iſt zu bemerken, daß alle abſichtlichen Vergleichungen
verſchiedener Handſchriften, wie ſie in den kritiſchen Apparat ein-
gegangen ſind, gar nicht fuͤr vollſtaͤndig angeſehen werden koͤnnen.
Gerade bei der Eigenthuͤmlichkeit des N. T. iſt eine Ungleichfoͤr-
migkeit entſtanden, die ſonſt nicht leicht auf einem andern Gebiete
vorkommen kann. Wie viele Stellen ſind nicht bloß hermeneu-
tiſch, ſondern auch dogmatiſch ſtreitig! So iſt's gekommen,
daß man oft nur ſolche Stellen verglichen hat, die dogmatiſches
Intereſſe haben. Auf die Weiſe entſteht eine unvollſtaͤndige Ver-
gleichung und Vorſtellung von der Beſchaffenheit der Handſchriften.

Allerdings haben wir bei dem N. T. den Vortheil, daß ein-
zelne Handſchriften ganz als Facſimile abgedruckt ſind. Allein
dieſe Abdruͤcke ſind nicht Allen zugaͤnglich und ſehr koſtbar. Schon
ihres großen Volumens wegen eignen ſie ſich nicht zum taͤgli-
chen Gebrauch und bei dem eigentlichen Leſen hat man ſie nicht
zur Hand.

Betrachten wir die bisher am meiſten gebrauchten Handausga-
ben des N. T., ſo hat in einigen der Herausgeber ſein Urtheil vom
Texte ganz geſondert. So in der Wetſteinſchen Ausgabe. Wetſtein
hat, was ihm an dem hergebrachten Text fehlerhaft duͤnkte und
was er fuͤr Beſſeres hielt, beſonders bezeichnet. Noch weiter ging
Griesbach, der was er Beſſeres aufgenommen hat, durch die Schrift
unterſchieden und das Alte in den inneren Rand geſtellt hat.
Hier faͤllt die Beſtechung des Auges allerdings bis auf einen ge-
wiſſen Punkt weg, aber doch nur zu Gunſten des alten Textes,
dem gar keine Auctoritaͤt zum Grunde liegt. Ja ſelbſt bei Gries-
bach geht die Superſtition in Beziehung auf den gemeinen Text

Hermeneutik u. Kritik. 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0329" n="305"/>
voraus, bei einem durchgearbeiteten Texte nicht &#x017F;o, und bin hier<lb/>
al&#x017F;o be&#x017F;tochen. Al&#x017F;o man muß den Text <hi rendition="#g">einer</hi> Hand&#x017F;chrift zum<lb/>
Grunde legen und die Abweichungen mit Bezeichnung des Ortes,<lb/>
woher &#x017F;ie genommen &#x017F;ind, als kriti&#x017F;chen Apparat hinzufu&#x0364;gen. &#x2014;<lb/>
Um die kriti&#x017F;che Aufgabe richtig zu lo&#x0364;&#x017F;en, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;&#x017F;ere Ausga-<lb/>
ben gegeben werden, in denen der Text ganz von neuem revidirt<lb/>
worden i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Ferner i&#x017F;t zu bemerken, daß alle ab&#x017F;ichtlichen Vergleichungen<lb/>
ver&#x017F;chiedener Hand&#x017F;chriften, wie &#x017F;ie in den kriti&#x017F;chen Apparat ein-<lb/>
gegangen &#x017F;ind, gar nicht fu&#x0364;r voll&#x017F;ta&#x0364;ndig ange&#x017F;ehen werden ko&#x0364;nnen.<lb/>
Gerade bei der Eigenthu&#x0364;mlichkeit des N. T. i&#x017F;t eine Ungleichfo&#x0364;r-<lb/>
migkeit ent&#x017F;tanden, die &#x017F;on&#x017F;t nicht leicht auf einem andern Gebiete<lb/>
vorkommen kann. Wie viele Stellen &#x017F;ind nicht bloß hermeneu-<lb/>
ti&#x017F;ch, &#x017F;ondern auch dogmati&#x017F;ch &#x017F;treitig! So i&#x017F;t's gekommen,<lb/>
daß man oft nur &#x017F;olche Stellen verglichen hat, die dogmati&#x017F;ches<lb/>
Intere&#x017F;&#x017F;e haben. Auf die Wei&#x017F;e ent&#x017F;teht eine unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndige Ver-<lb/>
gleichung und Vor&#x017F;tellung von der Be&#x017F;chaffenheit der Hand&#x017F;chriften.</p><lb/>
            <p>Allerdings haben wir bei dem N. T. den Vortheil, daß ein-<lb/>
zelne Hand&#x017F;chriften ganz als Fac&#x017F;imile abgedruckt &#x017F;ind. Allein<lb/>
die&#x017F;e Abdru&#x0364;cke &#x017F;ind nicht Allen zuga&#x0364;nglich und &#x017F;ehr ko&#x017F;tbar. Schon<lb/>
ihres großen Volumens wegen eignen &#x017F;ie &#x017F;ich nicht zum ta&#x0364;gli-<lb/>
chen Gebrauch und bei dem eigentlichen Le&#x017F;en hat man &#x017F;ie nicht<lb/>
zur Hand.</p><lb/>
            <p>Betrachten wir die bisher am mei&#x017F;ten gebrauchten Handausga-<lb/>
ben des N. T., &#x017F;o hat in einigen der Herausgeber &#x017F;ein Urtheil vom<lb/>
Texte ganz ge&#x017F;ondert. So in der Wet&#x017F;tein&#x017F;chen Ausgabe. <hi rendition="#g">Wet&#x017F;tein</hi><lb/>
hat, was ihm an dem hergebrachten Text fehlerhaft du&#x0364;nkte und<lb/>
was er fu&#x0364;r Be&#x017F;&#x017F;eres hielt, be&#x017F;onders bezeichnet. Noch weiter ging<lb/><hi rendition="#g">Griesbach</hi>, der was er Be&#x017F;&#x017F;eres aufgenommen hat, durch die Schrift<lb/>
unter&#x017F;chieden und das Alte in den inneren Rand ge&#x017F;tellt hat.<lb/>
Hier fa&#x0364;llt die Be&#x017F;techung des Auges allerdings bis auf einen ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Punkt weg, aber doch nur zu Gun&#x017F;ten des alten Textes,<lb/>
dem gar keine Auctorita&#x0364;t zum Grunde liegt. Ja &#x017F;elb&#x017F;t bei Gries-<lb/>
bach geht die Super&#x017F;tition in Beziehung auf den gemeinen Text<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Hermeneutik u. Kritik. 20</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0329] voraus, bei einem durchgearbeiteten Texte nicht ſo, und bin hier alſo beſtochen. Alſo man muß den Text einer Handſchrift zum Grunde legen und die Abweichungen mit Bezeichnung des Ortes, woher ſie genommen ſind, als kritiſchen Apparat hinzufuͤgen. — Um die kritiſche Aufgabe richtig zu loͤſen, muͤſſen beſſere Ausga- ben gegeben werden, in denen der Text ganz von neuem revidirt worden iſt. Ferner iſt zu bemerken, daß alle abſichtlichen Vergleichungen verſchiedener Handſchriften, wie ſie in den kritiſchen Apparat ein- gegangen ſind, gar nicht fuͤr vollſtaͤndig angeſehen werden koͤnnen. Gerade bei der Eigenthuͤmlichkeit des N. T. iſt eine Ungleichfoͤr- migkeit entſtanden, die ſonſt nicht leicht auf einem andern Gebiete vorkommen kann. Wie viele Stellen ſind nicht bloß hermeneu- tiſch, ſondern auch dogmatiſch ſtreitig! So iſt's gekommen, daß man oft nur ſolche Stellen verglichen hat, die dogmatiſches Intereſſe haben. Auf die Weiſe entſteht eine unvollſtaͤndige Ver- gleichung und Vorſtellung von der Beſchaffenheit der Handſchriften. Allerdings haben wir bei dem N. T. den Vortheil, daß ein- zelne Handſchriften ganz als Facſimile abgedruckt ſind. Allein dieſe Abdruͤcke ſind nicht Allen zugaͤnglich und ſehr koſtbar. Schon ihres großen Volumens wegen eignen ſie ſich nicht zum taͤgli- chen Gebrauch und bei dem eigentlichen Leſen hat man ſie nicht zur Hand. Betrachten wir die bisher am meiſten gebrauchten Handausga- ben des N. T., ſo hat in einigen der Herausgeber ſein Urtheil vom Texte ganz geſondert. So in der Wetſteinſchen Ausgabe. Wetſtein hat, was ihm an dem hergebrachten Text fehlerhaft duͤnkte und was er fuͤr Beſſeres hielt, beſonders bezeichnet. Noch weiter ging Griesbach, der was er Beſſeres aufgenommen hat, durch die Schrift unterſchieden und das Alte in den inneren Rand geſtellt hat. Hier faͤllt die Beſtechung des Auges allerdings bis auf einen ge- wiſſen Punkt weg, aber doch nur zu Gunſten des alten Textes, dem gar keine Auctoritaͤt zum Grunde liegt. Ja ſelbſt bei Gries- bach geht die Superſtition in Beziehung auf den gemeinen Text Hermeneutik u. Kritik. 20

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/329
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/329>, abgerufen am 04.05.2024.