also eines solchen, der über die unmittelbare hermeneutische Auf- gabe hinausgeht? Er hat vor allem nach dem Verhältniß des Herausgebers zur Thatsache, der ursprünglichen, und nach dem bestimmten Zwecke der Ausgabe zu fragen, und diesen zu beur- theilen, ob er ein solcher sei, bei dem man stehen bleiben könne?
Die Fälle sind verschieden. Ist das ursprüngliche Verhält- niß dieses, daß die Schrift vom Anfang an zur Öffentlichkeit und Vervielfältigung bestimmt war, so fragt sich, ist diese von Anfang an geschehen oder später? Wenn später, so entsteht die Frage, in welchem Zustande die Urschrift war, als die Verviel- fältigung anging, und auf welche Weise dieselbe betrieben worden?
Denken wir uns eine Sammlung z. B. von Briefen einer geschichtlichen Person. Es ist nicht bestimmt vorauszusezen, daß die Briefe von Anfang an und absichtlich öffentlich gewesen. Wir müssen also annehmen, daß die Öffentlichkeit erst mit der Sammlung angefangen. Hat nun der Sammler nicht erweislich lauter Urschriften gehabt, sondern Abschriften, so ist im lezteren Falle der kritische Charakter wol nicht immer derselbe. Er kann von einigen Stücken treuere bessere Abschriften bekommen haben, als von andern. Da fragt sich denn, läßt sich die ursprüngliche Handschrift des Schriftstellers herstellen, ob und wie weit und unter welchen Bedingungen?
Haben wir einen reichen Schriftsteller und andere Werke von ihm, die ziemlich genau überliefert sind, so daß wir im Stande sind, eben aus diesen genaueren Quellen seine Sprachbe- handlung sicher kennen zu lernen, so wäre es auf die Weise vielleicht möglich, aber nur auf dem Wege der divinatorischen Kritik, die Urschrift mit einiger Sicherheit herzustellen, doch auch nur da, wo bestimmte Indikationen der Unrichtigkeit des Vorhan- denen vorhanden sind, sei es durch Mannigfaltigkeit der Abschriften oder durch den Sinn. Da werden indeß manche über Vieles weglesen ohne Verdacht. Was ist in solchen Fällen für ein Ziel zu stecken? Wir werden uns, anstatt an den Verfasser, an den Zeitpunkt der Sammlung und Publikation halten müssen.
alſo eines ſolchen, der uͤber die unmittelbare hermeneutiſche Auf- gabe hinausgeht? Er hat vor allem nach dem Verhaͤltniß des Herausgebers zur Thatſache, der urſpruͤnglichen, und nach dem beſtimmten Zwecke der Ausgabe zu fragen, und dieſen zu beur- theilen, ob er ein ſolcher ſei, bei dem man ſtehen bleiben koͤnne?
Die Faͤlle ſind verſchieden. Iſt das urſpruͤngliche Verhaͤlt- niß dieſes, daß die Schrift vom Anfang an zur Öffentlichkeit und Vervielfaͤltigung beſtimmt war, ſo fragt ſich, iſt dieſe von Anfang an geſchehen oder ſpaͤter? Wenn ſpaͤter, ſo entſteht die Frage, in welchem Zuſtande die Urſchrift war, als die Verviel- faͤltigung anging, und auf welche Weiſe dieſelbe betrieben worden?
Denken wir uns eine Sammlung z. B. von Briefen einer geſchichtlichen Perſon. Es iſt nicht beſtimmt vorauszuſezen, daß die Briefe von Anfang an und abſichtlich oͤffentlich geweſen. Wir muͤſſen alſo annehmen, daß die Öffentlichkeit erſt mit der Sammlung angefangen. Hat nun der Sammler nicht erweislich lauter Urſchriften gehabt, ſondern Abſchriften, ſo iſt im lezteren Falle der kritiſche Charakter wol nicht immer derſelbe. Er kann von einigen Stuͤcken treuere beſſere Abſchriften bekommen haben, als von andern. Da fragt ſich denn, laͤßt ſich die urſpruͤngliche Handſchrift des Schriftſtellers herſtellen, ob und wie weit und unter welchen Bedingungen?
Haben wir einen reichen Schriftſteller und andere Werke von ihm, die ziemlich genau uͤberliefert ſind, ſo daß wir im Stande ſind, eben aus dieſen genaueren Quellen ſeine Sprachbe- handlung ſicher kennen zu lernen, ſo waͤre es auf die Weiſe vielleicht moͤglich, aber nur auf dem Wege der divinatoriſchen Kritik, die Urſchrift mit einiger Sicherheit herzuſtellen, doch auch nur da, wo beſtimmte Indikationen der Unrichtigkeit des Vorhan- denen vorhanden ſind, ſei es durch Mannigfaltigkeit der Abſchriften oder durch den Sinn. Da werden indeß manche uͤber Vieles wegleſen ohne Verdacht. Was iſt in ſolchen Faͤllen fuͤr ein Ziel zu ſtecken? Wir werden uns, anſtatt an den Verfaſſer, an den Zeitpunkt der Sammlung und Publikation halten muͤſſen.
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[301/0325]
alſo eines ſolchen, der uͤber die unmittelbare hermeneutiſche Auf-
gabe hinausgeht? Er hat vor allem nach dem Verhaͤltniß des
Herausgebers zur Thatſache, der urſpruͤnglichen, und nach dem
beſtimmten Zwecke der Ausgabe zu fragen, und dieſen zu beur-
theilen, ob er ein ſolcher ſei, bei dem man ſtehen bleiben koͤnne?
Die Faͤlle ſind verſchieden. Iſt das urſpruͤngliche Verhaͤlt-
niß dieſes, daß die Schrift vom Anfang an zur Öffentlichkeit
und Vervielfaͤltigung beſtimmt war, ſo fragt ſich, iſt dieſe von
Anfang an geſchehen oder ſpaͤter? Wenn ſpaͤter, ſo entſteht die
Frage, in welchem Zuſtande die Urſchrift war, als die Verviel-
faͤltigung anging, und auf welche Weiſe dieſelbe betrieben worden?
Denken wir uns eine Sammlung z. B. von Briefen einer
geſchichtlichen Perſon. Es iſt nicht beſtimmt vorauszuſezen, daß
die Briefe von Anfang an und abſichtlich oͤffentlich geweſen.
Wir muͤſſen alſo annehmen, daß die Öffentlichkeit erſt mit der
Sammlung angefangen. Hat nun der Sammler nicht erweislich
lauter Urſchriften gehabt, ſondern Abſchriften, ſo iſt im lezteren
Falle der kritiſche Charakter wol nicht immer derſelbe. Er kann
von einigen Stuͤcken treuere beſſere Abſchriften bekommen haben,
als von andern. Da fragt ſich denn, laͤßt ſich die urſpruͤngliche
Handſchrift des Schriftſtellers herſtellen, ob und wie weit und
unter welchen Bedingungen?
Haben wir einen reichen Schriftſteller und andere Werke
von ihm, die ziemlich genau uͤberliefert ſind, ſo daß wir im
Stande ſind, eben aus dieſen genaueren Quellen ſeine Sprachbe-
handlung ſicher kennen zu lernen, ſo waͤre es auf die Weiſe
vielleicht moͤglich, aber nur auf dem Wege der divinatoriſchen
Kritik, die Urſchrift mit einiger Sicherheit herzuſtellen, doch auch
nur da, wo beſtimmte Indikationen der Unrichtigkeit des Vorhan-
denen vorhanden ſind, ſei es durch Mannigfaltigkeit der Abſchriften
oder durch den Sinn. Da werden indeß manche uͤber Vieles
wegleſen ohne Verdacht. Was iſt in ſolchen Faͤllen fuͤr ein Ziel
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/325>, abgerufen am 22.12.2024.
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