Original ist der Gegenstand, die Copie Beschreibung, Relation, das angenommene Verhältniß die Identität oder völlige Überein- stimmung. Nun soll untersucht werden, ob dieß angenommene Verhältniß wirklich statt finde. Es kann einzelnes zweifelhaft sein, oder auch die ganze Schrift, immer aber ist auszumitteln, in welchem Verhältniß die Relation mit der Thatsache steht. So kann man sich die Aufgabe der philologischen Kritik als Ein- heit denken.
Allein die philologischen Aufgaben sind im Einzelnen ver- schieden und so auch das Verfahren der Lösung. So ist es nothwendig eine richtige Eintheilung zu finden, um die verschie- denen Aufgaben gehörig zu gruppiren.
Die vorherberührte Eintheilung in höhere und niedere Kritik wird verschieden gefaßt. Die Benennung höhere und niedere Kritik kann den Sinn haben, entweder daß die Aufgaben nach ihren Gegenständen wichtiger und unwichtiger sind, oder ihre Auflösung ein verschiedenes Maaß von Kenntnissen und Talenten voraussezen. Allein wenigstens dieß leztere kann erst nach den Operationen selbst eingesehen werden. Nimmt man die Einthei- lung in dem Sinn, daß die höhere die divinatorische, die nie- dere die urkundliche Kritik genannt wird, so ist zwar dadurch eine Verschiedenheit des Verfahrens oder der Methode angedeutet, aber es fragt sich, ob die Benennung von bestimmten Aufgaben gilt, so daß die einen nur durch diplomatische die andern nur durch divinatorische Kritik gelöst werden können. Dieß aber ist nicht der Fall, sondern die Aufgaben fallen oft in beide Gebiete oder die beiden Methoden des Verfahrens fallen in vielen Aufga- ben zusammen. So werden also durch jene Eintheilung die Aufgaben selber nicht getheilt.
Giebt es nun eine andere richtigere Art, die philologischen Aufgaben zu gruppiren? Mehr, Höheres, als Gruppirung, ist, wo man mit Einzelheiten zu thun hat, nicht zu verlangen. Es kommt hier nur aufs Praktische an. Die Aufgaben sind entstan- den und entstehen durch das Verhältniß einer späteren Zeit zu
Original iſt der Gegenſtand, die Copie Beſchreibung, Relation, das angenommene Verhaͤltniß die Identitaͤt oder voͤllige Überein- ſtimmung. Nun ſoll unterſucht werden, ob dieß angenommene Verhaͤltniß wirklich ſtatt finde. Es kann einzelnes zweifelhaft ſein, oder auch die ganze Schrift, immer aber iſt auszumitteln, in welchem Verhaͤltniß die Relation mit der Thatſache ſteht. So kann man ſich die Aufgabe der philologiſchen Kritik als Ein- heit denken.
Allein die philologiſchen Aufgaben ſind im Einzelnen ver- ſchieden und ſo auch das Verfahren der Loͤſung. So iſt es nothwendig eine richtige Eintheilung zu finden, um die verſchie- denen Aufgaben gehoͤrig zu gruppiren.
Die vorherberuͤhrte Eintheilung in hoͤhere und niedere Kritik wird verſchieden gefaßt. Die Benennung hoͤhere und niedere Kritik kann den Sinn haben, entweder daß die Aufgaben nach ihren Gegenſtaͤnden wichtiger und unwichtiger ſind, oder ihre Aufloͤſung ein verſchiedenes Maaß von Kenntniſſen und Talenten vorausſezen. Allein wenigſtens dieß leztere kann erſt nach den Operationen ſelbſt eingeſehen werden. Nimmt man die Einthei- lung in dem Sinn, daß die hoͤhere die divinatoriſche, die nie- dere die urkundliche Kritik genannt wird, ſo iſt zwar dadurch eine Verſchiedenheit des Verfahrens oder der Methode angedeutet, aber es fragt ſich, ob die Benennung von beſtimmten Aufgaben gilt, ſo daß die einen nur durch diplomatiſche die andern nur durch divinatoriſche Kritik geloͤſt werden koͤnnen. Dieß aber iſt nicht der Fall, ſondern die Aufgaben fallen oft in beide Gebiete oder die beiden Methoden des Verfahrens fallen in vielen Aufga- ben zuſammen. So werden alſo durch jene Eintheilung die Aufgaben ſelber nicht getheilt.
Giebt es nun eine andere richtigere Art, die philologiſchen Aufgaben zu gruppiren? Mehr, Hoͤheres, als Gruppirung, iſt, wo man mit Einzelheiten zu thun hat, nicht zu verlangen. Es kommt hier nur aufs Praktiſche an. Die Aufgaben ſind entſtan- den und entſtehen durch das Verhaͤltniß einer ſpaͤteren Zeit zu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0301"n="277"/>
Original iſt der Gegenſtand, die Copie Beſchreibung, Relation,<lb/>
das angenommene Verhaͤltniß die Identitaͤt oder voͤllige Überein-<lb/>ſtimmung. Nun ſoll unterſucht werden, ob dieß angenommene<lb/>
Verhaͤltniß wirklich ſtatt finde. Es kann einzelnes zweifelhaft<lb/>ſein, oder auch die ganze Schrift, immer aber iſt auszumitteln, in<lb/>
welchem Verhaͤltniß die Relation mit der Thatſache ſteht. So<lb/>
kann man ſich die Aufgabe der philologiſchen Kritik als Ein-<lb/>
heit denken.</p><lb/><p>Allein die philologiſchen Aufgaben ſind im Einzelnen ver-<lb/>ſchieden und ſo auch das Verfahren der Loͤſung. So iſt es<lb/>
nothwendig eine richtige Eintheilung zu finden, um die verſchie-<lb/>
denen Aufgaben gehoͤrig zu gruppiren.</p><lb/><p>Die vorherberuͤhrte Eintheilung in hoͤhere und niedere Kritik<lb/>
wird verſchieden gefaßt. Die Benennung hoͤhere und niedere<lb/>
Kritik kann den Sinn haben, entweder daß die Aufgaben nach<lb/>
ihren Gegenſtaͤnden wichtiger und unwichtiger ſind, oder ihre<lb/>
Aufloͤſung ein verſchiedenes Maaß von Kenntniſſen und Talenten<lb/>
vorausſezen. Allein wenigſtens dieß leztere kann erſt nach den<lb/>
Operationen ſelbſt eingeſehen werden. Nimmt man die Einthei-<lb/>
lung in dem Sinn, daß die hoͤhere die divinatoriſche, die nie-<lb/>
dere die urkundliche Kritik genannt wird, ſo iſt zwar dadurch<lb/>
eine Verſchiedenheit des Verfahrens oder der Methode angedeutet,<lb/>
aber es fragt ſich, ob die Benennung von beſtimmten Aufgaben<lb/>
gilt, ſo daß die einen nur durch diplomatiſche die andern nur<lb/>
durch divinatoriſche Kritik geloͤſt werden koͤnnen. Dieß aber iſt<lb/>
nicht der Fall, ſondern die Aufgaben fallen oft in beide Gebiete<lb/>
oder die beiden Methoden des Verfahrens fallen in vielen Aufga-<lb/>
ben zuſammen. So werden alſo durch jene Eintheilung die<lb/>
Aufgaben ſelber nicht getheilt.</p><lb/><p>Giebt es nun eine andere richtigere Art, die philologiſchen<lb/>
Aufgaben zu gruppiren? Mehr, Hoͤheres, als Gruppirung, iſt,<lb/>
wo man mit Einzelheiten zu thun hat, nicht zu verlangen. Es<lb/>
kommt hier nur aufs Praktiſche an. Die Aufgaben ſind entſtan-<lb/>
den und entſtehen durch das Verhaͤltniß einer ſpaͤteren Zeit zu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[277/0301]
Original iſt der Gegenſtand, die Copie Beſchreibung, Relation,
das angenommene Verhaͤltniß die Identitaͤt oder voͤllige Überein-
ſtimmung. Nun ſoll unterſucht werden, ob dieß angenommene
Verhaͤltniß wirklich ſtatt finde. Es kann einzelnes zweifelhaft
ſein, oder auch die ganze Schrift, immer aber iſt auszumitteln, in
welchem Verhaͤltniß die Relation mit der Thatſache ſteht. So
kann man ſich die Aufgabe der philologiſchen Kritik als Ein-
heit denken.
Allein die philologiſchen Aufgaben ſind im Einzelnen ver-
ſchieden und ſo auch das Verfahren der Loͤſung. So iſt es
nothwendig eine richtige Eintheilung zu finden, um die verſchie-
denen Aufgaben gehoͤrig zu gruppiren.
Die vorherberuͤhrte Eintheilung in hoͤhere und niedere Kritik
wird verſchieden gefaßt. Die Benennung hoͤhere und niedere
Kritik kann den Sinn haben, entweder daß die Aufgaben nach
ihren Gegenſtaͤnden wichtiger und unwichtiger ſind, oder ihre
Aufloͤſung ein verſchiedenes Maaß von Kenntniſſen und Talenten
vorausſezen. Allein wenigſtens dieß leztere kann erſt nach den
Operationen ſelbſt eingeſehen werden. Nimmt man die Einthei-
lung in dem Sinn, daß die hoͤhere die divinatoriſche, die nie-
dere die urkundliche Kritik genannt wird, ſo iſt zwar dadurch
eine Verſchiedenheit des Verfahrens oder der Methode angedeutet,
aber es fragt ſich, ob die Benennung von beſtimmten Aufgaben
gilt, ſo daß die einen nur durch diplomatiſche die andern nur
durch divinatoriſche Kritik geloͤſt werden koͤnnen. Dieß aber iſt
nicht der Fall, ſondern die Aufgaben fallen oft in beide Gebiete
oder die beiden Methoden des Verfahrens fallen in vielen Aufga-
ben zuſammen. So werden alſo durch jene Eintheilung die
Aufgaben ſelber nicht getheilt.
Giebt es nun eine andere richtigere Art, die philologiſchen
Aufgaben zu gruppiren? Mehr, Hoͤheres, als Gruppirung, iſt,
wo man mit Einzelheiten zu thun hat, nicht zu verlangen. Es
kommt hier nur aufs Praktiſche an. Die Aufgaben ſind entſtan-
den und entſtehen durch das Verhaͤltniß einer ſpaͤteren Zeit zu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/301>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.