wie oben aufgestellt ist, so kann sie in dem einen Falle eben so gut durch urkundliche, wie in dem andern Falle nur durch divi- natorische gelöst werden. Und eben so die niedere. Denn wenn ich von der Güte der vorhandenen Handschriften eine bestimmte Schäzung machen kann, und die besten stimmen in einer Leseart zusammen, so ist diese ohne weiteres die beste Leseart. Da ist die Aufgabe urkundlich gelöst. Muß ich aber zu Emendationen meine Zuflucht nehmen, so ist das divinatorische Kritik.
Allein so löst sich die Frage über das Verhältniß der histo- rischen und philologischen Kritik noch nicht genügend. Wir müs- sen die verschiedenen Aufgaben genauer betrachten, und mit ein- ander vergleichen. Da die philologische Kritik kein Begriff a priori ist, sondern mit dem Geschäft selber erst sich gebildet und erweitert hat, so kann man auch nur auf diesem Wege zu seiner richtigen Erklärung gelangen.
Schriften, die nicht mehr die Urschriften sind, können als Relationen angesehen werden. Die Schrift soll nur mitheilen, was der Verfasser geschrieben hat. Diese Thatsache ist nun zu er- mitteln. So scheint die Aufgabe der philologischen Kritik dieselbe, wie in der historischen, der Form nach, aber nicht der Sache nach. Wir finden hier gar nicht dieselbe Irrationalität zwischen Erzählung und Thatsache, wie in der historischen Kritik. Der Verfasser schrieb successive, eben so der Abschreiber. Sezen wir nun den Fall, der Verfasser schrieb sein Werk und ein Anderer schrieb es richtig ab, oder jener dictirte es und ein Anderer schrieb es richtig nach, so sind Urschrift und Abschrift u. s. w. gleich und die Differenz zwischen der Thatsache und Relation fällt weg, so daß die Aufgabe als Aufgabe verschwindet. Allein die Sache wird gleich anders, wenn wir den Fall etwas anders denken, nemlich, wenn der Schreiber oder Abschreiber nicht richtig nach- geschrieben oder abgeschrieben hat. Hier tritt eine Differenz ein zwischen der Thatsache des Dictirens oder der Urschrift, und der Relation in der dictirten Schrift oder Copie. Ist nun diese Differenz auch nicht nothwendig, so ist sie doch da und muß auf-
Hermeneutik u. Kritik. 18
wie oben aufgeſtellt iſt, ſo kann ſie in dem einen Falle eben ſo gut durch urkundliche, wie in dem andern Falle nur durch divi- natoriſche geloͤſt werden. Und eben ſo die niedere. Denn wenn ich von der Guͤte der vorhandenen Handſchriften eine beſtimmte Schaͤzung machen kann, und die beſten ſtimmen in einer Leſeart zuſammen, ſo iſt dieſe ohne weiteres die beſte Leſeart. Da iſt die Aufgabe urkundlich geloͤſt. Muß ich aber zu Emendationen meine Zuflucht nehmen, ſo iſt das divinatoriſche Kritik.
Allein ſo loͤſt ſich die Frage uͤber das Verhaͤltniß der hiſto- riſchen und philologiſchen Kritik noch nicht genuͤgend. Wir muͤſ- ſen die verſchiedenen Aufgaben genauer betrachten, und mit ein- ander vergleichen. Da die philologiſche Kritik kein Begriff a priori iſt, ſondern mit dem Geſchaͤft ſelber erſt ſich gebildet und erweitert hat, ſo kann man auch nur auf dieſem Wege zu ſeiner richtigen Erklaͤrung gelangen.
Schriften, die nicht mehr die Urſchriften ſind, koͤnnen als Relationen angeſehen werden. Die Schrift ſoll nur mitheilen, was der Verfaſſer geſchrieben hat. Dieſe Thatſache iſt nun zu er- mitteln. So ſcheint die Aufgabe der philologiſchen Kritik dieſelbe, wie in der hiſtoriſchen, der Form nach, aber nicht der Sache nach. Wir finden hier gar nicht dieſelbe Irrationalitaͤt zwiſchen Erzaͤhlung und Thatſache, wie in der hiſtoriſchen Kritik. Der Verfaſſer ſchrieb ſucceſſive, eben ſo der Abſchreiber. Sezen wir nun den Fall, der Verfaſſer ſchrieb ſein Werk und ein Anderer ſchrieb es richtig ab, oder jener dictirte es und ein Anderer ſchrieb es richtig nach, ſo ſind Urſchrift und Abſchrift u. ſ. w. gleich und die Differenz zwiſchen der Thatſache und Relation faͤllt weg, ſo daß die Aufgabe als Aufgabe verſchwindet. Allein die Sache wird gleich anders, wenn wir den Fall etwas anders denken, nemlich, wenn der Schreiber oder Abſchreiber nicht richtig nach- geſchrieben oder abgeſchrieben hat. Hier tritt eine Differenz ein zwiſchen der Thatſache des Dictirens oder der Urſchrift, und der Relation in der dictirten Schrift oder Copie. Iſt nun dieſe Differenz auch nicht nothwendig, ſo iſt ſie doch da und muß auf-
Hermeneutik u. Kritik. 18
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wie oben aufgeſtellt iſt, ſo kann ſie in dem einen Falle eben ſo
gut durch urkundliche, wie in dem andern Falle nur durch divi-
natoriſche geloͤſt werden. Und eben ſo die niedere. Denn wenn
ich von der Guͤte der vorhandenen Handſchriften eine beſtimmte
Schaͤzung machen kann, und die beſten ſtimmen in einer Leſeart
zuſammen, ſo iſt dieſe ohne weiteres die beſte Leſeart. Da iſt die
Aufgabe urkundlich geloͤſt. Muß ich aber zu Emendationen meine
Zuflucht nehmen, ſo iſt das divinatoriſche Kritik.
Allein ſo loͤſt ſich die Frage uͤber das Verhaͤltniß der hiſto-
riſchen und philologiſchen Kritik noch nicht genuͤgend. Wir muͤſ-
ſen die verſchiedenen Aufgaben genauer betrachten, und mit ein-
ander vergleichen. Da die philologiſche Kritik kein Begriff a
priori iſt, ſondern mit dem Geſchaͤft ſelber erſt ſich gebildet und
erweitert hat, ſo kann man auch nur auf dieſem Wege zu ſeiner
richtigen Erklaͤrung gelangen.
Schriften, die nicht mehr die Urſchriften ſind, koͤnnen als
Relationen angeſehen werden. Die Schrift ſoll nur mitheilen,
was der Verfaſſer geſchrieben hat. Dieſe Thatſache iſt nun zu er-
mitteln. So ſcheint die Aufgabe der philologiſchen Kritik dieſelbe,
wie in der hiſtoriſchen, der Form nach, aber nicht der Sache
nach. Wir finden hier gar nicht dieſelbe Irrationalitaͤt zwiſchen
Erzaͤhlung und Thatſache, wie in der hiſtoriſchen Kritik. Der
Verfaſſer ſchrieb ſucceſſive, eben ſo der Abſchreiber. Sezen wir
nun den Fall, der Verfaſſer ſchrieb ſein Werk und ein Anderer
ſchrieb es richtig ab, oder jener dictirte es und ein Anderer ſchrieb
es richtig nach, ſo ſind Urſchrift und Abſchrift u. ſ. w. gleich und
die Differenz zwiſchen der Thatſache und Relation faͤllt weg, ſo
daß die Aufgabe als Aufgabe verſchwindet. Allein die Sache
wird gleich anders, wenn wir den Fall etwas anders denken,
nemlich, wenn der Schreiber oder Abſchreiber nicht richtig nach-
geſchrieben oder abgeſchrieben hat. Hier tritt eine Differenz ein
zwiſchen der Thatſache des Dictirens oder der Urſchrift, und der
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/297>, abgerufen am 24.12.2024.
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