Die erste Stufe ist das Geschichtsinteresse. Man bleibt stehen bei der Ausmittlung der einzelnen Thatsachen. Es kann darunter viel wissenschaftliches begriffen sein. Es liest z. B. Je- mand die Alten in naturhistorischer Hinsicht. Weder der sprach- liche, noch der psychologische Zusammenhang wird dabei berührt. Auf dieser niedrigsten Stufe wäre die Auslegung die allgemein menschliche.
Die zweite Stufe ist das künstlerische oder Geschmacksin- teresse. Dieß ist beschränkter, als das erste, denn das eigentliche Volk nimmt keinen Antheil daran, sondern nur die Gebildeten. Diese Beschäftigung führt schon weiter. Die Darstellung durch die Sprache giebt den Reiz, und es liegt darin die Anregung zur Kenntniß der Sprache und der Kunstproduktionen. Die Kunst- lehre ist durch den Geschmack an den Werken des Alterthums be- sonders angeregt worden.
Die dritte Stufe ist das spekulative, d. h. rein wissenschaft- liche, und das religiöse Interesse. Ich stelle beides gleich, weil beides von dem Höchsten des menschlichen Geistes ausgeht. Das wissen- schaftliche faßt die Sache in der tiefsten Wurzel. Wir können nicht denken ohne die Sprache. Das Denken aber ist die Grund- lage aller andern Funktionen des Geistes, wir gelangen dadurch, daß wir sprechend denken, erst zu einem bestimmten Grade des Bewußtseins und der Absichtlichkeit. Es ist von dem höchsten wissenschaftlichen Interesse, zu erkennen, wie der Mensch in der Bildung und im Gebrauch der Sprache zu Werke geht. Eben so ist es von dem höchsten wissenschaftlichen Interesse, den Men- schen als Erscheinung aus dem Menschen als Idee zu verstehen. Beides ist aufs genaueste verbunden, weil eben die Sprache den Menschen in seiner Entwicklung leitet und begleitet. -- Greift das Geschmacksinteresse die Aufgabe tiefer, so kann diese nur durch das wissenschaftliche gehörig gelöst werden. Allein zu diesem speculativen Interesse erhebt sich ein noch kleinerer Theil, als zu dem Geschmacksinteresse. Das aber gleicht das religiöse wieder aus, da dieß auch ein allgemeines ist. Es ist die niedrigste Stufe,
Die erſte Stufe iſt das Geſchichtsintereſſe. Man bleibt ſtehen bei der Ausmittlung der einzelnen Thatſachen. Es kann darunter viel wiſſenſchaftliches begriffen ſein. Es lieſt z. B. Je- mand die Alten in naturhiſtoriſcher Hinſicht. Weder der ſprach- liche, noch der pſychologiſche Zuſammenhang wird dabei beruͤhrt. Auf dieſer niedrigſten Stufe waͤre die Auslegung die allgemein menſchliche.
Die zweite Stufe iſt das kuͤnſtleriſche oder Geſchmacksin- tereſſe. Dieß iſt beſchraͤnkter, als das erſte, denn das eigentliche Volk nimmt keinen Antheil daran, ſondern nur die Gebildeten. Dieſe Beſchaͤftigung fuͤhrt ſchon weiter. Die Darſtellung durch die Sprache giebt den Reiz, und es liegt darin die Anregung zur Kenntniß der Sprache und der Kunſtproduktionen. Die Kunſt- lehre iſt durch den Geſchmack an den Werken des Alterthums be- ſonders angeregt worden.
Die dritte Stufe iſt das ſpekulative, d. h. rein wiſſenſchaft- liche, und das religioͤſe Intereſſe. Ich ſtelle beides gleich, weil beides von dem Hoͤchſten des menſchlichen Geiſtes ausgeht. Das wiſſen- ſchaftliche faßt die Sache in der tiefſten Wurzel. Wir koͤnnen nicht denken ohne die Sprache. Das Denken aber iſt die Grund- lage aller andern Funktionen des Geiſtes, wir gelangen dadurch, daß wir ſprechend denken, erſt zu einem beſtimmten Grade des Bewußtſeins und der Abſichtlichkeit. Es iſt von dem hoͤchſten wiſſenſchaftlichen Intereſſe, zu erkennen, wie der Menſch in der Bildung und im Gebrauch der Sprache zu Werke geht. Eben ſo iſt es von dem hoͤchſten wiſſenſchaftlichen Intereſſe, den Men- ſchen als Erſcheinung aus dem Menſchen als Idee zu verſtehen. Beides iſt aufs genaueſte verbunden, weil eben die Sprache den Menſchen in ſeiner Entwicklung leitet und begleitet. — Greift das Geſchmacksintereſſe die Aufgabe tiefer, ſo kann dieſe nur durch das wiſſenſchaftliche gehoͤrig geloͤſt werden. Allein zu dieſem ſpeculativen Intereſſe erhebt ſich ein noch kleinerer Theil, als zu dem Geſchmacksintereſſe. Das aber gleicht das religioͤſe wieder aus, da dieß auch ein allgemeines iſt. Es iſt die niedrigſte Stufe,
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Die erſte Stufe iſt das Geſchichtsintereſſe. Man bleibt
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mand die Alten in naturhiſtoriſcher Hinſicht. Weder der ſprach-
liche, noch der pſychologiſche Zuſammenhang wird dabei beruͤhrt.
Auf dieſer niedrigſten Stufe waͤre die Auslegung die allgemein
menſchliche.
Die zweite Stufe iſt das kuͤnſtleriſche oder Geſchmacksin-
tereſſe. Dieß iſt beſchraͤnkter, als das erſte, denn das eigentliche
Volk nimmt keinen Antheil daran, ſondern nur die Gebildeten.
Dieſe Beſchaͤftigung fuͤhrt ſchon weiter. Die Darſtellung durch
die Sprache giebt den Reiz, und es liegt darin die Anregung zur
Kenntniß der Sprache und der Kunſtproduktionen. Die Kunſt-
lehre iſt durch den Geſchmack an den Werken des Alterthums be-
ſonders angeregt worden.
Die dritte Stufe iſt das ſpekulative, d. h. rein wiſſenſchaft-
liche, und das religioͤſe Intereſſe. Ich ſtelle beides gleich, weil beides
von dem Hoͤchſten des menſchlichen Geiſtes ausgeht. Das wiſſen-
ſchaftliche faßt die Sache in der tiefſten Wurzel. Wir koͤnnen
nicht denken ohne die Sprache. Das Denken aber iſt die Grund-
lage aller andern Funktionen des Geiſtes, wir gelangen dadurch,
daß wir ſprechend denken, erſt zu einem beſtimmten Grade des
Bewußtſeins und der Abſichtlichkeit. Es iſt von dem hoͤchſten
wiſſenſchaftlichen Intereſſe, zu erkennen, wie der Menſch in der
Bildung und im Gebrauch der Sprache zu Werke geht. Eben
ſo iſt es von dem hoͤchſten wiſſenſchaftlichen Intereſſe, den Men-
ſchen als Erſcheinung aus dem Menſchen als Idee zu verſtehen.
Beides iſt aufs genaueſte verbunden, weil eben die Sprache den
Menſchen in ſeiner Entwicklung leitet und begleitet. — Greift
das Geſchmacksintereſſe die Aufgabe tiefer, ſo kann dieſe nur durch
das wiſſenſchaftliche gehoͤrig geloͤſt werden. Allein zu dieſem
ſpeculativen Intereſſe erhebt ſich ein noch kleinerer Theil, als zu
dem Geſchmacksintereſſe. Das aber gleicht das religioͤſe wieder
aus, da dieß auch ein allgemeines iſt. Es iſt die niedrigſte Stufe,
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/285>, abgerufen am 22.12.2024.
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