Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

die Paulinischen, sondern auch die katholischen Briefe sezen die
mündliche Verkündigung des Evangeliums voraus, und zwar
wie sie von gewissen, nicht unbekannten Personen ausgegangen
waren. Da das ursprünglich etwas Gemeinsames war, so konnte
sich Jeder ohne Furcht nicht oder mißverstanden zu werden dar-
auf beziehen. Daraus aber muß für uns wieder eine Dunkelheit
entstehen. Überall wo man auf dunkle Stellen stößt, muß man
jene primitive Verkündigung voraussezen, und von da aus zu-
rückschließen.

So ist also die Verbindung der entgegengesezten Richtungen
immer anzuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen
Schriften, so doch vorzugsweise durchaus und überall bei dem
Neuen Testamente.

Schlußbetrachtung 1).

Wenn die hermeneutische Aufgabe überhaupt vollkommen
nur gelöst werden kann durch Verbindung der Grammatik mit
der Dialektik, der Kunstlehre und der speziellen Anthropologie, so
ist klar, daß in der Hermeneutik ein mächtiges Motiv liegt für
die Verbindung des Speculativen mit dem Empirischen und Ge-
schichtlichen. Je größer daher die hermeneutische Aufgabe ist, die
einer Generation vorliegt, um so mehr wird sie ein solcher He-
bel. Eine aufmerksame Beobachtung der Geschichte lehrt auch,
daß seit der Wiederauflebung der Wissenschaften die Beschäftigung
mit der Auslegung, je mehr sie auf die Principien derselben ein-
gegangen ist, desto mehr zur geistigen Entwicklung nach allen
Seiten hin beigetragen hat.

Soll aber die hermeneutische Kunst solche Wirkung haben,
so gehört dazu, daß man an dem, was durch Rede und Schrift
dargestellt ist, wahres Interesse nimmt. Dieß Interesse kann ver-
schiedener Art sein, aber wir unterscheiden darin drei Stufen.

1) Aus den Vorlesungen im Wintersemester 1826 -- 1827.

die Pauliniſchen, ſondern auch die katholiſchen Briefe ſezen die
muͤndliche Verkuͤndigung des Evangeliums voraus, und zwar
wie ſie von gewiſſen, nicht unbekannten Perſonen ausgegangen
waren. Da das urſpruͤnglich etwas Gemeinſames war, ſo konnte
ſich Jeder ohne Furcht nicht oder mißverſtanden zu werden dar-
auf beziehen. Daraus aber muß fuͤr uns wieder eine Dunkelheit
entſtehen. Überall wo man auf dunkle Stellen ſtoͤßt, muß man
jene primitive Verkuͤndigung vorausſezen, und von da aus zu-
ruͤckſchließen.

So iſt alſo die Verbindung der entgegengeſezten Richtungen
immer anzuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen
Schriften, ſo doch vorzugsweiſe durchaus und uͤberall bei dem
Neuen Teſtamente.

Schlußbetrachtung 1).

Wenn die hermeneutiſche Aufgabe uͤberhaupt vollkommen
nur geloͤſt werden kann durch Verbindung der Grammatik mit
der Dialektik, der Kunſtlehre und der ſpeziellen Anthropologie, ſo
iſt klar, daß in der Hermeneutik ein maͤchtiges Motiv liegt fuͤr
die Verbindung des Speculativen mit dem Empiriſchen und Ge-
ſchichtlichen. Je groͤßer daher die hermeneutiſche Aufgabe iſt, die
einer Generation vorliegt, um ſo mehr wird ſie ein ſolcher He-
bel. Eine aufmerkſame Beobachtung der Geſchichte lehrt auch,
daß ſeit der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften die Beſchaͤftigung
mit der Auslegung, je mehr ſie auf die Principien derſelben ein-
gegangen iſt, deſto mehr zur geiſtigen Entwicklung nach allen
Seiten hin beigetragen hat.

Soll aber die hermeneutiſche Kunſt ſolche Wirkung haben,
ſo gehoͤrt dazu, daß man an dem, was durch Rede und Schrift
dargeſtellt iſt, wahres Intereſſe nimmt. Dieß Intereſſe kann ver-
ſchiedener Art ſein, aber wir unterſcheiden darin drei Stufen.

1) Aus den Vorleſungen im Winterſemeſter 1826 — 1827.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0284" n="260"/>
die Paulini&#x017F;chen, &#x017F;ondern auch die katholi&#x017F;chen Briefe &#x017F;ezen die<lb/>
mu&#x0364;ndliche Verku&#x0364;ndigung des Evangeliums voraus, und zwar<lb/>
wie &#x017F;ie von gewi&#x017F;&#x017F;en, nicht unbekannten Per&#x017F;onen ausgegangen<lb/>
waren. Da das ur&#x017F;pru&#x0364;nglich etwas Gemein&#x017F;ames war, &#x017F;o konnte<lb/>
&#x017F;ich Jeder ohne Furcht nicht oder mißver&#x017F;tanden zu werden dar-<lb/>
auf beziehen. Daraus aber muß fu&#x0364;r uns wieder eine Dunkelheit<lb/>
ent&#x017F;tehen. Überall wo man auf dunkle Stellen &#x017F;to&#x0364;ßt, muß man<lb/>
jene primitive Verku&#x0364;ndigung voraus&#x017F;ezen, und von da aus zu-<lb/>
ru&#x0364;ck&#x017F;chließen.</p><lb/>
              <p>So i&#x017F;t al&#x017F;o die Verbindung der entgegenge&#x017F;ezten Richtungen<lb/>
immer anzuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen<lb/>
Schriften, &#x017F;o doch vorzugswei&#x017F;e durchaus und u&#x0364;berall bei dem<lb/>
Neuen Te&#x017F;tamente.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Schlußbetrachtung</hi><note place="foot" n="1)">Aus den Vorle&#x017F;ungen im Winter&#x017F;eme&#x017F;ter 1826 &#x2014; 1827.</note>.</head><lb/>
            <p>Wenn die hermeneuti&#x017F;che Aufgabe u&#x0364;berhaupt vollkommen<lb/>
nur gelo&#x0364;&#x017F;t werden kann durch Verbindung der Grammatik mit<lb/>
der Dialektik, der Kun&#x017F;tlehre und der &#x017F;peziellen Anthropologie, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t klar, daß in der Hermeneutik ein ma&#x0364;chtiges Motiv liegt fu&#x0364;r<lb/>
die Verbindung des Speculativen mit dem Empiri&#x017F;chen und Ge-<lb/>
&#x017F;chichtlichen. Je gro&#x0364;ßer daher die hermeneuti&#x017F;che Aufgabe i&#x017F;t, die<lb/>
einer Generation vorliegt, um &#x017F;o mehr wird &#x017F;ie ein &#x017F;olcher He-<lb/>
bel. Eine aufmerk&#x017F;ame Beobachtung der Ge&#x017F;chichte lehrt auch,<lb/>
daß &#x017F;eit der Wiederauflebung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften die Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung<lb/>
mit der Auslegung, je mehr &#x017F;ie auf die Principien der&#x017F;elben ein-<lb/>
gegangen i&#x017F;t, de&#x017F;to mehr zur gei&#x017F;tigen Entwicklung nach allen<lb/>
Seiten hin beigetragen hat.</p><lb/>
            <p>Soll aber die hermeneuti&#x017F;che Kun&#x017F;t &#x017F;olche Wirkung haben,<lb/>
&#x017F;o geho&#x0364;rt dazu, daß man an dem, was durch Rede und Schrift<lb/>
darge&#x017F;tellt i&#x017F;t, wahres Intere&#x017F;&#x017F;e nimmt. Dieß Intere&#x017F;&#x017F;e kann ver-<lb/>
&#x017F;chiedener Art &#x017F;ein, aber wir unter&#x017F;cheiden darin drei Stufen.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[260/0284] die Pauliniſchen, ſondern auch die katholiſchen Briefe ſezen die muͤndliche Verkuͤndigung des Evangeliums voraus, und zwar wie ſie von gewiſſen, nicht unbekannten Perſonen ausgegangen waren. Da das urſpruͤnglich etwas Gemeinſames war, ſo konnte ſich Jeder ohne Furcht nicht oder mißverſtanden zu werden dar- auf beziehen. Daraus aber muß fuͤr uns wieder eine Dunkelheit entſtehen. Überall wo man auf dunkle Stellen ſtoͤßt, muß man jene primitive Verkuͤndigung vorausſezen, und von da aus zu- ruͤckſchließen. So iſt alſo die Verbindung der entgegengeſezten Richtungen immer anzuwenden, und wenn vielleicht weniger bei den profanen Schriften, ſo doch vorzugsweiſe durchaus und uͤberall bei dem Neuen Teſtamente. Schlußbetrachtung 1). Wenn die hermeneutiſche Aufgabe uͤberhaupt vollkommen nur geloͤſt werden kann durch Verbindung der Grammatik mit der Dialektik, der Kunſtlehre und der ſpeziellen Anthropologie, ſo iſt klar, daß in der Hermeneutik ein maͤchtiges Motiv liegt fuͤr die Verbindung des Speculativen mit dem Empiriſchen und Ge- ſchichtlichen. Je groͤßer daher die hermeneutiſche Aufgabe iſt, die einer Generation vorliegt, um ſo mehr wird ſie ein ſolcher He- bel. Eine aufmerkſame Beobachtung der Geſchichte lehrt auch, daß ſeit der Wiederauflebung der Wiſſenſchaften die Beſchaͤftigung mit der Auslegung, je mehr ſie auf die Principien derſelben ein- gegangen iſt, deſto mehr zur geiſtigen Entwicklung nach allen Seiten hin beigetragen hat. Soll aber die hermeneutiſche Kunſt ſolche Wirkung haben, ſo gehoͤrt dazu, daß man an dem, was durch Rede und Schrift dargeſtellt iſt, wahres Intereſſe nimmt. Dieß Intereſſe kann ver- ſchiedener Art ſein, aber wir unterſcheiden darin drei Stufen. 1) Aus den Vorleſungen im Winterſemeſter 1826 — 1827.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/284
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/284>, abgerufen am 22.12.2024.