stellern Notizen über die neutest. Zeit, aber sind sie auch fest und sicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Römi- schen Gefangenschaft des Apostels Paulus. Einige sehen darin eine bestimmte historische Nachricht, Andere eine bloße Tradition, die ursprünglich eine exegetische Conjectur war, welche allmählich als Thatsache genommen wurde. Man kann sagen, die christlichen Schriftsteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von der Vorstellung, daß alles Einzelne in den neutest. Schriftstellen vom heil. Geiste eingegeben sei, und daß auch alles wahr gewor- den sein müsse, was sie sagen. So meinte man auch, daß Pau- lus nach Spanien müsse gekommen sein wegen Röm. 15, 24. Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen- schaft immer mit der Nachricht von des Apostels Reise nach Spa- nien zusammenhängt, so deutet das auf Röm. 15, 24 zurück, und so hat wahrscheinlich die ganze Erzählung darin ihren Grund. Je nachdem man nun die Sache so oder so ansieht, entsteht na- türlich für die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden kön- nen, eine andere Exegese. So hat Jemand 1) kürzlich sogar den kritischen Kanon aufgestellt, daß alles dasjenige von Paulus, was man seiner wahren Zeit nach in der Apostelgeschichte nicht nachweisen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit ist, in die Zeit nach der ersten Gefangenschaft falle. Dadurch entsteht eine ganz andere Ordnung der Paulinischen Briefe, die spätesten werden die frühesten u. s. w. So zeigt sich auch hier, wie die Exegese auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutische Kunst wieder die Basis der Kritik sein muß.
Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein- zelne aus dem Ganzen verstehen, so befinden wir uns in dem Verhältniß gegenseitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei der Lösung dieser Aufgabe dieselben hermeneutischen Principien,
1) Köhler, Versuch über die Abfassungszeit der epistolischen Schriften im N. T. und der Apokalypse 1830. 8.
ſtellern Notizen uͤber die neuteſt. Zeit, aber ſind ſie auch feſt und ſicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Roͤmi- ſchen Gefangenſchaft des Apoſtels Paulus. Einige ſehen darin eine beſtimmte hiſtoriſche Nachricht, Andere eine bloße Tradition, die urſpruͤnglich eine exegetiſche Conjectur war, welche allmaͤhlich als Thatſache genommen wurde. Man kann ſagen, die chriſtlichen Schriftſteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von der Vorſtellung, daß alles Einzelne in den neuteſt. Schriftſtellen vom heil. Geiſte eingegeben ſei, und daß auch alles wahr gewor- den ſein muͤſſe, was ſie ſagen. So meinte man auch, daß Pau- lus nach Spanien muͤſſe gekommen ſein wegen Roͤm. 15, 24. Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen- ſchaft immer mit der Nachricht von des Apoſtels Reiſe nach Spa- nien zuſammenhaͤngt, ſo deutet das auf Roͤm. 15, 24 zuruͤck, und ſo hat wahrſcheinlich die ganze Erzaͤhlung darin ihren Grund. Je nachdem man nun die Sache ſo oder ſo anſieht, entſteht na- tuͤrlich fuͤr die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden koͤn- nen, eine andere Exegeſe. So hat Jemand 1) kuͤrzlich ſogar den kritiſchen Kanon aufgeſtellt, daß alles dasjenige von Paulus, was man ſeiner wahren Zeit nach in der Apoſtelgeſchichte nicht nachweiſen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit iſt, in die Zeit nach der erſten Gefangenſchaft falle. Dadurch entſteht eine ganz andere Ordnung der Pauliniſchen Briefe, die ſpaͤteſten werden die fruͤheſten u. ſ. w. So zeigt ſich auch hier, wie die Exegeſe auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutiſche Kunſt wieder die Baſis der Kritik ſein muß.
Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein- zelne aus dem Ganzen verſtehen, ſo befinden wir uns in dem Verhaͤltniß gegenſeitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei der Loͤſung dieſer Aufgabe dieſelben hermeneutiſchen Principien,
1) Koͤhler, Verſuch uͤber die Abfaſſungszeit der epiſtoliſchen Schriften im N. T. und der Apokalypſe 1830. 8.
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ſtellern Notizen uͤber die neuteſt. Zeit, aber ſind ſie auch feſt und
ſicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Roͤmi-
ſchen Gefangenſchaft des Apoſtels Paulus. Einige ſehen darin
eine beſtimmte hiſtoriſche Nachricht, Andere eine bloße Tradition,
die urſpruͤnglich eine exegetiſche Conjectur war, welche allmaͤhlich
als Thatſache genommen wurde. Man kann ſagen, die chriſtlichen
Schriftſteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von
der Vorſtellung, daß alles Einzelne in den neuteſt. Schriftſtellen
vom heil. Geiſte eingegeben ſei, und daß auch alles wahr gewor-
den ſein muͤſſe, was ſie ſagen. So meinte man auch, daß Pau-
lus nach Spanien muͤſſe gekommen ſein wegen Roͤm. 15, 24.
Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen-
ſchaft immer mit der Nachricht von des Apoſtels Reiſe nach Spa-
nien zuſammenhaͤngt, ſo deutet das auf Roͤm. 15, 24 zuruͤck,
und ſo hat wahrſcheinlich die ganze Erzaͤhlung darin ihren Grund.
Je nachdem man nun die Sache ſo oder ſo anſieht, entſteht na-
tuͤrlich fuͤr die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden koͤn-
nen, eine andere Exegeſe. So hat Jemand 1) kuͤrzlich ſogar
den kritiſchen Kanon aufgeſtellt, daß alles dasjenige von Paulus,
was man ſeiner wahren Zeit nach in der Apoſtelgeſchichte nicht
nachweiſen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit iſt, in
die Zeit nach der erſten Gefangenſchaft falle. Dadurch entſteht
eine ganz andere Ordnung der Pauliniſchen Briefe, die ſpaͤteſten
werden die fruͤheſten u. ſ. w. So zeigt ſich auch hier, wie die
Exegeſe auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutiſche Kunſt
wieder die Baſis der Kritik ſein muß.
Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein-
zelne aus dem Ganzen verſtehen, ſo befinden wir uns in dem
Verhaͤltniß gegenſeitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei
der Loͤſung dieſer Aufgabe dieſelben hermeneutiſchen Principien,
1) Koͤhler, Verſuch uͤber die Abfaſſungszeit der epiſtoliſchen Schriften im
N. T. und der Apokalypſe 1830. 8.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/271>, abgerufen am 25.12.2024.
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