Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Disciplinen auf ihren bestimmten Begriff zurückgeführt hat,
ohne diesen zu isoliren und aus seinem natürlichen Zusam-
menhange mit allen übrigen philologischen Momenten her-
auszureißen. Die Construction der Grundbegriffe, die Ent-
wicklung der hermeneutischen Kunst aus ihren allgemeinsten
Anfängen und Ursachen im Leben und Wesen des Geistes,
die Feststellung der Unterschiede und Stufen des Verstehens
die Erörterung der Aufgaben und Operationen aus den in
den Gesetzen der Sprache und des Denkens liegenden Grün-
den, endlich die dialektische Scheidung und Wiederverknüpfung
der verschiedenen Momente in ihren feinsten Modificatio-
nen, -- das alles ist wahrhaft musterhaft. Wenn auch in
der weiteren Ausbildung der Wissenschaft sich manches anders
und richtiger stellen und gestalten mag und wird, -- Schleier-
macher selbst macht auch nur den Anspruch des energischen
Anfangs und Anstoßes zum Besseren, -- das unvergängliche
Verdienst wird ihm bleiben, die Wissenschaft auf ihre wah-
ren Grundlagen und Grundformen zurückgeführt zu haben.

Wenn man in der neueren Zeit von Constructionen
solcher Wissenschaften hört, welche ihrem wesentlichen Theile
nach auf dem Gebiet der Praxis und der Erfahrung liegen,
so kann man leicht im Voraus bange werden, daß man seine
Zeit verderben müsse mit unnützen Gespinnsten von Oben
herab und im leeren Raum. Diese Furcht ist bei Schleier-
macher ohne Grund. Meister in der speculativen Construction
wußte er auch recht gut, wo ihr Ort nicht ist, und wie er
auf dem hermeneutischen und kritischen Gebiete sich selbst viel-
fach versucht und einen großen Reichthum von Erfahrungen ge-
sammelt hatte, überall ein Feind des Mechanischen und Geist-
losen, so hat er auch in der Construction der Regeln und

**

Disciplinen auf ihren beſtimmten Begriff zuruͤckgefuͤhrt hat,
ohne dieſen zu iſoliren und aus ſeinem natuͤrlichen Zuſam-
menhange mit allen uͤbrigen philologiſchen Momenten her-
auszureißen. Die Conſtruction der Grundbegriffe, die Ent-
wicklung der hermeneutiſchen Kunſt aus ihren allgemeinſten
Anfaͤngen und Urſachen im Leben und Weſen des Geiſtes,
die Feſtſtellung der Unterſchiede und Stufen des Verſtehens
die Eroͤrterung der Aufgaben und Operationen aus den in
den Geſetzen der Sprache und des Denkens liegenden Gruͤn-
den, endlich die dialektiſche Scheidung und Wiederverknuͤpfung
der verſchiedenen Momente in ihren feinſten Modificatio-
nen, — das alles iſt wahrhaft muſterhaft. Wenn auch in
der weiteren Ausbildung der Wiſſenſchaft ſich manches anders
und richtiger ſtellen und geſtalten mag und wird, — Schleier-
macher ſelbſt macht auch nur den Anſpruch des energiſchen
Anfangs und Anſtoßes zum Beſſeren, — das unvergaͤngliche
Verdienſt wird ihm bleiben, die Wiſſenſchaft auf ihre wah-
ren Grundlagen und Grundformen zuruͤckgefuͤhrt zu haben.

Wenn man in der neueren Zeit von Conſtructionen
ſolcher Wiſſenſchaften hoͤrt, welche ihrem weſentlichen Theile
nach auf dem Gebiet der Praxis und der Erfahrung liegen,
ſo kann man leicht im Voraus bange werden, daß man ſeine
Zeit verderben muͤſſe mit unnuͤtzen Geſpinnſten von Oben
herab und im leeren Raum. Dieſe Furcht iſt bei Schleier-
macher ohne Grund. Meiſter in der ſpeculativen Conſtruction
wußte er auch recht gut, wo ihr Ort nicht iſt, und wie er
auf dem hermeneutiſchen und kritiſchen Gebiete ſich ſelbſt viel-
fach verſucht und einen großen Reichthum von Erfahrungen ge-
ſammelt hatte, uͤberall ein Feind des Mechaniſchen und Geiſt-
loſen, ſo hat er auch in der Conſtruction der Regeln und

**
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="XVII"/>
Disciplinen auf ihren be&#x017F;timmten Begriff zuru&#x0364;ckgefu&#x0364;hrt hat,<lb/>
ohne die&#x017F;en zu i&#x017F;oliren und aus &#x017F;einem natu&#x0364;rlichen Zu&#x017F;am-<lb/>
menhange mit allen u&#x0364;brigen philologi&#x017F;chen Momenten her-<lb/>
auszureißen. Die Con&#x017F;truction der Grundbegriffe, die Ent-<lb/>
wicklung der hermeneuti&#x017F;chen Kun&#x017F;t aus ihren allgemein&#x017F;ten<lb/>
Anfa&#x0364;ngen und Ur&#x017F;achen im Leben und We&#x017F;en des Gei&#x017F;tes,<lb/>
die Fe&#x017F;t&#x017F;tellung der Unter&#x017F;chiede und Stufen des Ver&#x017F;tehens<lb/>
die Ero&#x0364;rterung der Aufgaben und Operationen aus den in<lb/>
den Ge&#x017F;etzen der Sprache und des Denkens liegenden Gru&#x0364;n-<lb/>
den, endlich die dialekti&#x017F;che Scheidung und Wiederverknu&#x0364;pfung<lb/>
der ver&#x017F;chiedenen Momente in ihren fein&#x017F;ten Modificatio-<lb/>
nen, &#x2014; das alles i&#x017F;t wahrhaft mu&#x017F;terhaft. Wenn auch in<lb/>
der weiteren Ausbildung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ich manches anders<lb/>
und richtiger &#x017F;tellen und ge&#x017F;talten mag und wird, &#x2014; Schleier-<lb/>
macher &#x017F;elb&#x017F;t macht auch nur den An&#x017F;pruch des energi&#x017F;chen<lb/>
Anfangs und An&#x017F;toßes zum Be&#x017F;&#x017F;eren, &#x2014; das unverga&#x0364;ngliche<lb/>
Verdien&#x017F;t wird ihm bleiben, die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft auf ihre wah-<lb/>
ren Grundlagen und Grundformen zuru&#x0364;ckgefu&#x0364;hrt zu haben.</p><lb/>
        <p>Wenn man in der neueren Zeit von Con&#x017F;tructionen<lb/>
&#x017F;olcher Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften ho&#x0364;rt, welche ihrem we&#x017F;entlichen Theile<lb/>
nach auf dem Gebiet der Praxis und der Erfahrung liegen,<lb/>
&#x017F;o kann man leicht im Voraus bange werden, daß man &#x017F;eine<lb/>
Zeit verderben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e mit unnu&#x0364;tzen Ge&#x017F;pinn&#x017F;ten von Oben<lb/>
herab und im leeren Raum. Die&#x017F;e Furcht i&#x017F;t bei Schleier-<lb/>
macher ohne Grund. Mei&#x017F;ter in der &#x017F;peculativen Con&#x017F;truction<lb/>
wußte er auch recht gut, wo ihr Ort nicht i&#x017F;t, und wie er<lb/>
auf dem hermeneuti&#x017F;chen und kriti&#x017F;chen Gebiete &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t viel-<lb/>
fach ver&#x017F;ucht und einen großen Reichthum von Erfahrungen ge-<lb/>
&#x017F;ammelt hatte, u&#x0364;berall ein Feind des Mechani&#x017F;chen und Gei&#x017F;t-<lb/>
lo&#x017F;en, &#x017F;o hat er auch in der Con&#x017F;truction der Regeln und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">**</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XVII/0023] Disciplinen auf ihren beſtimmten Begriff zuruͤckgefuͤhrt hat, ohne dieſen zu iſoliren und aus ſeinem natuͤrlichen Zuſam- menhange mit allen uͤbrigen philologiſchen Momenten her- auszureißen. Die Conſtruction der Grundbegriffe, die Ent- wicklung der hermeneutiſchen Kunſt aus ihren allgemeinſten Anfaͤngen und Urſachen im Leben und Weſen des Geiſtes, die Feſtſtellung der Unterſchiede und Stufen des Verſtehens die Eroͤrterung der Aufgaben und Operationen aus den in den Geſetzen der Sprache und des Denkens liegenden Gruͤn- den, endlich die dialektiſche Scheidung und Wiederverknuͤpfung der verſchiedenen Momente in ihren feinſten Modificatio- nen, — das alles iſt wahrhaft muſterhaft. Wenn auch in der weiteren Ausbildung der Wiſſenſchaft ſich manches anders und richtiger ſtellen und geſtalten mag und wird, — Schleier- macher ſelbſt macht auch nur den Anſpruch des energiſchen Anfangs und Anſtoßes zum Beſſeren, — das unvergaͤngliche Verdienſt wird ihm bleiben, die Wiſſenſchaft auf ihre wah- ren Grundlagen und Grundformen zuruͤckgefuͤhrt zu haben. Wenn man in der neueren Zeit von Conſtructionen ſolcher Wiſſenſchaften hoͤrt, welche ihrem weſentlichen Theile nach auf dem Gebiet der Praxis und der Erfahrung liegen, ſo kann man leicht im Voraus bange werden, daß man ſeine Zeit verderben muͤſſe mit unnuͤtzen Geſpinnſten von Oben herab und im leeren Raum. Dieſe Furcht iſt bei Schleier- macher ohne Grund. Meiſter in der ſpeculativen Conſtruction wußte er auch recht gut, wo ihr Ort nicht iſt, und wie er auf dem hermeneutiſchen und kritiſchen Gebiete ſich ſelbſt viel- fach verſucht und einen großen Reichthum von Erfahrungen ge- ſammelt hatte, uͤberall ein Feind des Mechaniſchen und Geiſt- loſen, ſo hat er auch in der Conſtruction der Regeln und **

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/23
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. XVII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/23>, abgerufen am 05.12.2024.