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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Die Präliminarien zu dem Studium eines Werkes müssen
andeuten, ob in demselben eine solche Einheit vorauszusezen sei,
in der das Ganze aus dem Einzelnen und umgekehrt zu erklären
ist. Aber damit ist die eigentliche Tendenz nur im Allgemeinen
gegeben. Die Aufgabe aber ist dann dieselbe durch alle Einzel-
heiten des Werks zu verfolgen.

Gehen wir zur Lösung dieser Aufgabe auf den Keimentschluß
des Verf. genau ein, so entsteht zuerst die Frage, was für ein
quantitativer Theil seines Lebens ein solcher sei.

Der Keimentschluß kann in dem Verf. selbst einen dreifachen
Werth haben. Das Maximum des Werthes haben wir in dem
eigentlichen Lebenswerk, wenn jener Entschluß ein das ganze Leben
ausfüllender ist. Das Minimum davon ist in dem Gelegenheits-
werke, welches mit keinem Theile des Berufs im Zusammenhang
steht, sondern rein zufällig ist. Dazwischen liegt ein drittes, Stu-
dien, als auch gewöhnlich von Gelegenheit ausgehende Vorübung
auf ein Werk. Jede solche Produktion ist nicht das Werk selbst,
noch ein Theil desselben, gehört aber auch nicht ins Gelegentliche,
weil es in Beziehung auf jenes Werk steht. Dieß sind die drei
quantitativen Abstufungen im Keimentschluß, und es ist leicht
einzusehen, daß sie für die hermeneutische Operation von großer
Wichtigkeit sind. Ist das hermeneutische Verfahren ohne Kennt-
niß und richtige Ansicht von dem verschiedenen Werth des Keim-
entschlusses, woraus eine Schrift hervorgeht, so sind Mißverständ-
nisse unvermeidlich. Man kann ein Stückwerk nicht auslegen, wie
ein eigentliches Lebenswerk. Dort z. B. sind Ungleichheiten in
der Behandlung zu erwarten. Je organisirter ein Werk ist, so
daß jedes mit dem Ganzen und der Grundeinheit genau zusam-
menhängt, um so weniger werden Ungleichheiten bemerkbar sein.
Das hermeneutische Verfahren muß dort ein anderes sein, als hier.

Wie gelangen wir nun dazu, zu bestimmen, ob ein Werk
das eine oder andere sei? Wir müssen die Gesammtthätigkeit des Ver-
fassers kennen. Denken wir uns, daß ein und derselbe Schrift-
steller ein eigentliches Werk und auch Studien zu dem Werke ge-

Die Praͤliminarien zu dem Studium eines Werkes muͤſſen
andeuten, ob in demſelben eine ſolche Einheit vorauszuſezen ſei,
in der das Ganze aus dem Einzelnen und umgekehrt zu erklaͤren
iſt. Aber damit iſt die eigentliche Tendenz nur im Allgemeinen
gegeben. Die Aufgabe aber iſt dann dieſelbe durch alle Einzel-
heiten des Werks zu verfolgen.

Gehen wir zur Loͤſung dieſer Aufgabe auf den Keimentſchluß
des Verf. genau ein, ſo entſteht zuerſt die Frage, was fuͤr ein
quantitativer Theil ſeines Lebens ein ſolcher ſei.

Der Keimentſchluß kann in dem Verf. ſelbſt einen dreifachen
Werth haben. Das Maximum des Werthes haben wir in dem
eigentlichen Lebenswerk, wenn jener Entſchluß ein das ganze Leben
ausfuͤllender iſt. Das Minimum davon iſt in dem Gelegenheits-
werke, welches mit keinem Theile des Berufs im Zuſammenhang
ſteht, ſondern rein zufaͤllig iſt. Dazwiſchen liegt ein drittes, Stu-
dien, als auch gewoͤhnlich von Gelegenheit ausgehende Voruͤbung
auf ein Werk. Jede ſolche Produktion iſt nicht das Werk ſelbſt,
noch ein Theil deſſelben, gehoͤrt aber auch nicht ins Gelegentliche,
weil es in Beziehung auf jenes Werk ſteht. Dieß ſind die drei
quantitativen Abſtufungen im Keimentſchluß, und es iſt leicht
einzuſehen, daß ſie fuͤr die hermeneutiſche Operation von großer
Wichtigkeit ſind. Iſt das hermeneutiſche Verfahren ohne Kennt-
niß und richtige Anſicht von dem verſchiedenen Werth des Keim-
entſchluſſes, woraus eine Schrift hervorgeht, ſo ſind Mißverſtaͤnd-
niſſe unvermeidlich. Man kann ein Stuͤckwerk nicht auslegen, wie
ein eigentliches Lebenswerk. Dort z. B. ſind Ungleichheiten in
der Behandlung zu erwarten. Je organiſirter ein Werk iſt, ſo
daß jedes mit dem Ganzen und der Grundeinheit genau zuſam-
menhaͤngt, um ſo weniger werden Ungleichheiten bemerkbar ſein.
Das hermeneutiſche Verfahren muß dort ein anderes ſein, als hier.

Wie gelangen wir nun dazu, zu beſtimmen, ob ein Werk
das eine oder andere ſei? Wir muͤſſen die Geſammtthaͤtigkeit des Ver-
faſſers kennen. Denken wir uns, daß ein und derſelbe Schrift-
ſteller ein eigentliches Werk und auch Studien zu dem Werke ge-

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[160/0184] Die Praͤliminarien zu dem Studium eines Werkes muͤſſen andeuten, ob in demſelben eine ſolche Einheit vorauszuſezen ſei, in der das Ganze aus dem Einzelnen und umgekehrt zu erklaͤren iſt. Aber damit iſt die eigentliche Tendenz nur im Allgemeinen gegeben. Die Aufgabe aber iſt dann dieſelbe durch alle Einzel- heiten des Werks zu verfolgen. Gehen wir zur Loͤſung dieſer Aufgabe auf den Keimentſchluß des Verf. genau ein, ſo entſteht zuerſt die Frage, was fuͤr ein quantitativer Theil ſeines Lebens ein ſolcher ſei. Der Keimentſchluß kann in dem Verf. ſelbſt einen dreifachen Werth haben. Das Maximum des Werthes haben wir in dem eigentlichen Lebenswerk, wenn jener Entſchluß ein das ganze Leben ausfuͤllender iſt. Das Minimum davon iſt in dem Gelegenheits- werke, welches mit keinem Theile des Berufs im Zuſammenhang ſteht, ſondern rein zufaͤllig iſt. Dazwiſchen liegt ein drittes, Stu- dien, als auch gewoͤhnlich von Gelegenheit ausgehende Voruͤbung auf ein Werk. Jede ſolche Produktion iſt nicht das Werk ſelbſt, noch ein Theil deſſelben, gehoͤrt aber auch nicht ins Gelegentliche, weil es in Beziehung auf jenes Werk ſteht. Dieß ſind die drei quantitativen Abſtufungen im Keimentſchluß, und es iſt leicht einzuſehen, daß ſie fuͤr die hermeneutiſche Operation von großer Wichtigkeit ſind. Iſt das hermeneutiſche Verfahren ohne Kennt- niß und richtige Anſicht von dem verſchiedenen Werth des Keim- entſchluſſes, woraus eine Schrift hervorgeht, ſo ſind Mißverſtaͤnd- niſſe unvermeidlich. Man kann ein Stuͤckwerk nicht auslegen, wie ein eigentliches Lebenswerk. Dort z. B. ſind Ungleichheiten in der Behandlung zu erwarten. Je organiſirter ein Werk iſt, ſo daß jedes mit dem Ganzen und der Grundeinheit genau zuſam- menhaͤngt, um ſo weniger werden Ungleichheiten bemerkbar ſein. Das hermeneutiſche Verfahren muß dort ein anderes ſein, als hier. Wie gelangen wir nun dazu, zu beſtimmen, ob ein Werk das eine oder andere ſei? Wir muͤſſen die Geſammtthaͤtigkeit des Ver- faſſers kennen. Denken wir uns, daß ein und derſelbe Schrift- ſteller ein eigentliches Werk und auch Studien zu dem Werke ge-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/184>, abgerufen am 30.04.2024.