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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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schränkt. Die Hauptsache aber ist die Methode, nach welcher das
Ganze und seine Einheit aus dem Einzelnen zu verstehen ist.
Dieß geschieht vermittelst der Composition, aber, um nicht beide
Seiten der Interpretation, die psychologische und technische zu
verwirren, nur so daß davon nur so viel vorausgesezt wird, als
davon schon an dieser Stelle der Auslegung verstanden werden
kann. Geht nach Analogie eines Kunstwerks alles Einzelne in
der Einheit des Stoffes und der Form auf, so ist indem ich dieß
erkannt habe die Aufgabe gelöst. Wenn dagegen das Einzelne
nicht alles in der Einheit des Stoffes und der Form aufgeht,
und zwar so, daß das übrigbleibende eine gemeinsame Beziehung
hat, so liegt eben hierin die verborgene Einheit, der heimliche
Zweck des Verfassers. Diesen mit Sicherheit zu erkennen, hat
natürlich große Schwierigkeit. Man kann sich dieß anschaulich
machen an der Hypothese von der antichristlichen Tendenz des
Werkes von Gibbon. Jeder solche Zweck stört die natürliche Un-
befangenheit des Schriftstellers in der Composition. Daher ist
eine heimliche Absicht in Werken, die rein auf dem Gebiete der
Kunst und Wissenschaft liegen, nicht so zu erwarten, wie in Wer-
ken, welche dem Geschäftsleben angehören. Kommt so etwas
in Werken der Kunst und Wissenschaft vor, so wird dadurch der
künstliche und wissenschaftliche Werth bedeutend verringert. Das
Geschäftsleben ist für die litterärische Produktion ein sehr be-
schränktes Gebiet. Aber es giebt nicht selten Collisionen zwischen
der rein wissenschaftlichen und künstlerischen Richtung auf der
einen Seite und der Richtung auf die Lebensgestaltung auf der
andern Seite. Da kann das Diplomatische eindringen. Dieß ge-
schieht vornehmlich in Zeiten und Zuständen, wo auf dem Ge-
biete der Kunst und Wissenschaft Partheiungen sind, die ins
Leben eingreifen, oder wo das Staatsleben mit dem wissenschaft-
lichen und künstlerischen in Opposition ist. Also ist eine vollstän-
dige Kenntniß der Lebensverhältnisse und Zustände des Verfassers
nothwendig, um zu wissen, ob man dergleichen geheime Absichten
in seinen Werken zu suchen hat oder nicht.

ſchraͤnkt. Die Hauptſache aber iſt die Methode, nach welcher das
Ganze und ſeine Einheit aus dem Einzelnen zu verſtehen iſt.
Dieß geſchieht vermittelſt der Compoſition, aber, um nicht beide
Seiten der Interpretation, die pſychologiſche und techniſche zu
verwirren, nur ſo daß davon nur ſo viel vorausgeſezt wird, als
davon ſchon an dieſer Stelle der Auslegung verſtanden werden
kann. Geht nach Analogie eines Kunſtwerks alles Einzelne in
der Einheit des Stoffes und der Form auf, ſo iſt indem ich dieß
erkannt habe die Aufgabe geloͤſt. Wenn dagegen das Einzelne
nicht alles in der Einheit des Stoffes und der Form aufgeht,
und zwar ſo, daß das uͤbrigbleibende eine gemeinſame Beziehung
hat, ſo liegt eben hierin die verborgene Einheit, der heimliche
Zweck des Verfaſſers. Dieſen mit Sicherheit zu erkennen, hat
natuͤrlich große Schwierigkeit. Man kann ſich dieß anſchaulich
machen an der Hypotheſe von der antichriſtlichen Tendenz des
Werkes von Gibbon. Jeder ſolche Zweck ſtoͤrt die natuͤrliche Un-
befangenheit des Schriftſtellers in der Compoſition. Daher iſt
eine heimliche Abſicht in Werken, die rein auf dem Gebiete der
Kunſt und Wiſſenſchaft liegen, nicht ſo zu erwarten, wie in Wer-
ken, welche dem Geſchaͤftsleben angehoͤren. Kommt ſo etwas
in Werken der Kunſt und Wiſſenſchaft vor, ſo wird dadurch der
kuͤnſtliche und wiſſenſchaftliche Werth bedeutend verringert. Das
Geſchaͤftsleben iſt fuͤr die litteraͤriſche Produktion ein ſehr be-
ſchraͤnktes Gebiet. Aber es giebt nicht ſelten Colliſionen zwiſchen
der rein wiſſenſchaftlichen und kuͤnſtleriſchen Richtung auf der
einen Seite und der Richtung auf die Lebensgeſtaltung auf der
andern Seite. Da kann das Diplomatiſche eindringen. Dieß ge-
ſchieht vornehmlich in Zeiten und Zuſtaͤnden, wo auf dem Ge-
biete der Kunſt und Wiſſenſchaft Partheiungen ſind, die ins
Leben eingreifen, oder wo das Staatsleben mit dem wiſſenſchaft-
lichen und kuͤnſtleriſchen in Oppoſition iſt. Alſo iſt eine vollſtaͤn-
dige Kenntniß der Lebensverhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde des Verfaſſers
nothwendig, um zu wiſſen, ob man dergleichen geheime Abſichten
in ſeinen Werken zu ſuchen hat oder nicht.

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[159/0183] ſchraͤnkt. Die Hauptſache aber iſt die Methode, nach welcher das Ganze und ſeine Einheit aus dem Einzelnen zu verſtehen iſt. Dieß geſchieht vermittelſt der Compoſition, aber, um nicht beide Seiten der Interpretation, die pſychologiſche und techniſche zu verwirren, nur ſo daß davon nur ſo viel vorausgeſezt wird, als davon ſchon an dieſer Stelle der Auslegung verſtanden werden kann. Geht nach Analogie eines Kunſtwerks alles Einzelne in der Einheit des Stoffes und der Form auf, ſo iſt indem ich dieß erkannt habe die Aufgabe geloͤſt. Wenn dagegen das Einzelne nicht alles in der Einheit des Stoffes und der Form aufgeht, und zwar ſo, daß das uͤbrigbleibende eine gemeinſame Beziehung hat, ſo liegt eben hierin die verborgene Einheit, der heimliche Zweck des Verfaſſers. Dieſen mit Sicherheit zu erkennen, hat natuͤrlich große Schwierigkeit. Man kann ſich dieß anſchaulich machen an der Hypotheſe von der antichriſtlichen Tendenz des Werkes von Gibbon. Jeder ſolche Zweck ſtoͤrt die natuͤrliche Un- befangenheit des Schriftſtellers in der Compoſition. Daher iſt eine heimliche Abſicht in Werken, die rein auf dem Gebiete der Kunſt und Wiſſenſchaft liegen, nicht ſo zu erwarten, wie in Wer- ken, welche dem Geſchaͤftsleben angehoͤren. Kommt ſo etwas in Werken der Kunſt und Wiſſenſchaft vor, ſo wird dadurch der kuͤnſtliche und wiſſenſchaftliche Werth bedeutend verringert. Das Geſchaͤftsleben iſt fuͤr die litteraͤriſche Produktion ein ſehr be- ſchraͤnktes Gebiet. Aber es giebt nicht ſelten Colliſionen zwiſchen der rein wiſſenſchaftlichen und kuͤnſtleriſchen Richtung auf der einen Seite und der Richtung auf die Lebensgeſtaltung auf der andern Seite. Da kann das Diplomatiſche eindringen. Dieß ge- ſchieht vornehmlich in Zeiten und Zuſtaͤnden, wo auf dem Ge- biete der Kunſt und Wiſſenſchaft Partheiungen ſind, die ins Leben eingreifen, oder wo das Staatsleben mit dem wiſſenſchaft- lichen und kuͤnſtleriſchen in Oppoſition iſt. Alſo iſt eine vollſtaͤn- dige Kenntniß der Lebensverhaͤltniſſe und Zuſtaͤnde des Verfaſſers nothwendig, um zu wiſſen, ob man dergleichen geheime Abſichten in ſeinen Werken zu ſuchen hat oder nicht.

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/183>, abgerufen am 30.04.2024.