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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müssen nicht dieser
großen Künstlerin zu Gebote stehen? Welche wunderbare Verkettungen
noch unbekannter Kräfte müssen nicht da noch verborgen liegen? Die
Wissenschaft versucht dieses Räthsel zu lösen und macht sich nur zagend
an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menschlichen Verstande viel-
leicht unmöglich seyn werde, eine so wunderbare Verschlingung und
Verwicklung zu übersehen und zu erfassen, aber je weiter wir vor-
dringen, desto mehr wächst unser Erstaunen. Jeder Schritt bringt uns
eine einfachere Lösung eines verwickelten Räthsels, jede zusammen-
gesetzte Erscheinung weist uns auf einfachere Ursachen und Kräfte
zurück und unsere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung,
wenn wir sehen, mit wie geringen Mitteln die Natur ihre ungeheuer-
sten Erfolge erreicht. Aus dem einfachen Verhältniß, daß Körper, die
in Bewegung begriffen, sich gegenseitig anziehen, wölbt die Natur
den ganzen Sternenhimmel über uns, und schreibt der Sonne und
ihren Planeten die unwandelbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen
nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die
Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln.

Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der
schlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen
Brodem der brasilianischen Wälder in den kühlenden Lüften schaukelt,
bis zu dem feinen kaum zolllangen Moose, welches unsere feuchten
Grotten mit seinem phosphorescirenden Grün auskleidet, -- von der
prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre rosafarbenen Blätter
auf den schweigenden Fluthen der guianischen Landseen wiegt, bis zu
den unscheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der sogenannten Wasserlinse
auf unseren Teichen; welches wunderbare Spiel der Gestalten, welch
ein Reichthum der Formen! -- Von den 6000jährigen Affenbrod-
bäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht schon
auf der noch von Menschen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem
Pilz, dem eine fruchtwarme Sommernacht ein Daseyn gab, das schon
der nächste Morgen zerstörte, welche Verschiedenheit der Lebens-
dauer! -- Von dem festen Holz der Neuholländischen Eiche, aus

uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müſſen nicht dieſer
großen Künſtlerin zu Gebote ſtehen? Welche wunderbare Verkettungen
noch unbekannter Kräfte müſſen nicht da noch verborgen liegen? Die
Wiſſenſchaft verſucht dieſes Räthſel zu löſen und macht ſich nur zagend
an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menſchlichen Verſtande viel-
leicht unmöglich ſeyn werde, eine ſo wunderbare Verſchlingung und
Verwicklung zu überſehen und zu erfaſſen, aber je weiter wir vor-
dringen, deſto mehr wächſt unſer Erſtaunen. Jeder Schritt bringt uns
eine einfachere Löſung eines verwickelten Räthſels, jede zuſammen-
geſetzte Erſcheinung weiſt uns auf einfachere Urſachen und Kräfte
zurück und unſere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung,
wenn wir ſehen, mit wie geringen Mitteln die Natur ihre ungeheuer-
ſten Erfolge erreicht. Aus dem einfachen Verhältniß, daß Körper, die
in Bewegung begriffen, ſich gegenſeitig anziehen, wölbt die Natur
den ganzen Sternenhimmel über uns, und ſchreibt der Sonne und
ihren Planeten die unwandelbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen
nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die
Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln.

Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der
ſchlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen
Brodem der braſilianiſchen Wälder in den kühlenden Lüften ſchaukelt,
bis zu dem feinen kaum zolllangen Mooſe, welches unſere feuchten
Grotten mit ſeinem phosphorescirenden Grün auskleidet, — von der
prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre roſafarbenen Blätter
auf den ſchweigenden Fluthen der guianiſchen Landſeen wiegt, bis zu
den unſcheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der ſogenannten Waſſerlinſe
auf unſeren Teichen; welches wunderbare Spiel der Geſtalten, welch
ein Reichthum der Formen! — Von den 6000jährigen Affenbrod-
bäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht ſchon
auf der noch von Menſchen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem
Pilz, dem eine fruchtwarme Sommernacht ein Daſeyn gab, das ſchon
der nächſte Morgen zerſtörte, welche Verſchiedenheit der Lebens-
dauer! — Von dem feſten Holz der Neuholländiſchen Eiche, aus

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[38/0054] uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müſſen nicht dieſer großen Künſtlerin zu Gebote ſtehen? Welche wunderbare Verkettungen noch unbekannter Kräfte müſſen nicht da noch verborgen liegen? Die Wiſſenſchaft verſucht dieſes Räthſel zu löſen und macht ſich nur zagend an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menſchlichen Verſtande viel- leicht unmöglich ſeyn werde, eine ſo wunderbare Verſchlingung und Verwicklung zu überſehen und zu erfaſſen, aber je weiter wir vor- dringen, deſto mehr wächſt unſer Erſtaunen. Jeder Schritt bringt uns eine einfachere Löſung eines verwickelten Räthſels, jede zuſammen- geſetzte Erſcheinung weiſt uns auf einfachere Urſachen und Kräfte zurück und unſere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung, wenn wir ſehen, mit wie geringen Mitteln die Natur ihre ungeheuer- ſten Erfolge erreicht. Aus dem einfachen Verhältniß, daß Körper, die in Bewegung begriffen, ſich gegenſeitig anziehen, wölbt die Natur den ganzen Sternenhimmel über uns, und ſchreibt der Sonne und ihren Planeten die unwandelbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln. Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der ſchlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen Brodem der braſilianiſchen Wälder in den kühlenden Lüften ſchaukelt, bis zu dem feinen kaum zolllangen Mooſe, welches unſere feuchten Grotten mit ſeinem phosphorescirenden Grün auskleidet, — von der prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre roſafarbenen Blätter auf den ſchweigenden Fluthen der guianiſchen Landſeen wiegt, bis zu den unſcheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der ſogenannten Waſſerlinſe auf unſeren Teichen; welches wunderbare Spiel der Geſtalten, welch ein Reichthum der Formen! — Von den 6000jährigen Affenbrod- bäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht ſchon auf der noch von Menſchen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem Pilz, dem eine fruchtwarme Sommernacht ein Daſeyn gab, das ſchon der nächſte Morgen zerſtörte, welche Verſchiedenheit der Lebens- dauer! — Von dem feſten Holz der Neuholländiſchen Eiche, aus

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/54>, abgerufen am 05.12.2024.