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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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haben wir den entschiedenen Beweis daß unsere Vorstellungen freie
Schöpfungen unseres Geistes sind, daß wir nicht die Außenwelt so
auffassen wie sie ist, sondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die
Veranlassung wird zu einer eigenthümlichen geistigen Thätigkeit, de-
ren Producte häufig in einem gewissen gesetzmäßigen Zusammen-
hang mit der Außenwelt stehen, häufig aber auch gar nicht damit
zusammenhängen. Wir drücken unser Auge und sehen einen leuch-
tenden Kreis vor uns, aber es ist kein leuchtender Körper vorhan-
den. Welch' eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller
Art hier fließt, ist leicht zu sehen. Von den neckenden Gestalten der
monddurchglänzten Nebellandschaft bis zu den wahnsinndrohenden
Visionen des Geistersehers haben wir eine Reihe von Täuschungen,
die alle nicht der Natur, nicht ihrer strengen Gesetzlichkeit zur Last
fallen, sondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum
unterworfenen Thätigkeit des Geistes gehören. Großer Umsicht, viel-
seitiger Bildung bedarf es, ehe der Geist sich hier von allen seinen
eignen Irrthümern losmacht und sie ganz beherrschen lernt. Das
Sehen im weitern Sinne des Wortes erscheint uns so leicht und
doch ist es eine schwere Kunst. Nur nach und nach lernt man, wel-
chen Botschaften der Nerven man vertrauen und danach seine Vor-
stellungen formen dürfe. Selbst Männer von Wissenschaft können
hier irren, irren oft und um so öfter, je weniger sie darüber verstän-
digt sind, wo sie die Quellen ihres Irrthums zu suchen haben.

Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß ist
es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botschaften von seinen Dienern,
den Nerven, empfängt, Befehle an sie austheilt ohne sich ihrer Ge-
genwart überhaupt zunächst bewußt zu werden. Erst spät, erst durch
die weit fortgebildete Wissenschaft erfährt der Mensch, daß Nerven
existiren und daß bestimmte Functionen ihnen zugewiesen sind. Er
sieht und weiß nichts von seinem Sehnerven, ihn schmerzt die ge-
brannte Hand, aber er wird sich der leitenden Faser nicht bewußt, er
bewegt spielend mit geläufiger Geschwindigkeit die Zunge, aber er-
fährt nichts von dem Wege, den die bestimmenden Nerven nehmen.--

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haben wir den entſchiedenen Beweis daß unſere Vorſtellungen freie
Schöpfungen unſeres Geiſtes ſind, daß wir nicht die Außenwelt ſo
auffaſſen wie ſie iſt, ſondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die
Veranlaſſung wird zu einer eigenthümlichen geiſtigen Thätigkeit, de-
ren Producte häufig in einem gewiſſen geſetzmäßigen Zuſammen-
hang mit der Außenwelt ſtehen, häufig aber auch gar nicht damit
zuſammenhängen. Wir drücken unſer Auge und ſehen einen leuch-
tenden Kreis vor uns, aber es iſt kein leuchtender Körper vorhan-
den. Welch' eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller
Art hier fließt, iſt leicht zu ſehen. Von den neckenden Geſtalten der
monddurchglänzten Nebellandſchaft bis zu den wahnſinndrohenden
Viſionen des Geiſterſehers haben wir eine Reihe von Täuſchungen,
die alle nicht der Natur, nicht ihrer ſtrengen Geſetzlichkeit zur Laſt
fallen, ſondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum
unterworfenen Thätigkeit des Geiſtes gehören. Großer Umſicht, viel-
ſeitiger Bildung bedarf es, ehe der Geiſt ſich hier von allen ſeinen
eignen Irrthümern losmacht und ſie ganz beherrſchen lernt. Das
Sehen im weitern Sinne des Wortes erſcheint uns ſo leicht und
doch iſt es eine ſchwere Kunſt. Nur nach und nach lernt man, wel-
chen Botſchaften der Nerven man vertrauen und danach ſeine Vor-
ſtellungen formen dürfe. Selbſt Männer von Wiſſenſchaft können
hier irren, irren oft und um ſo öfter, je weniger ſie darüber verſtän-
digt ſind, wo ſie die Quellen ihres Irrthums zu ſuchen haben.

Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß iſt
es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botſchaften von ſeinen Dienern,
den Nerven, empfängt, Befehle an ſie austheilt ohne ſich ihrer Ge-
genwart überhaupt zunächſt bewußt zu werden. Erſt ſpät, erſt durch
die weit fortgebildete Wiſſenſchaft erfährt der Menſch, daß Nerven
exiſtiren und daß beſtimmte Functionen ihnen zugewieſen ſind. Er
ſieht und weiß nichts von ſeinem Sehnerven, ihn ſchmerzt die ge-
brannte Hand, aber er wird ſich der leitenden Faſer nicht bewußt, er
bewegt ſpielend mit geläufiger Geſchwindigkeit die Zunge, aber er-
fährt nichts von dem Wege, den die beſtimmenden Nerven nehmen.—

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[19/0035] haben wir den entſchiedenen Beweis daß unſere Vorſtellungen freie Schöpfungen unſeres Geiſtes ſind, daß wir nicht die Außenwelt ſo auffaſſen wie ſie iſt, ſondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die Veranlaſſung wird zu einer eigenthümlichen geiſtigen Thätigkeit, de- ren Producte häufig in einem gewiſſen geſetzmäßigen Zuſammen- hang mit der Außenwelt ſtehen, häufig aber auch gar nicht damit zuſammenhängen. Wir drücken unſer Auge und ſehen einen leuch- tenden Kreis vor uns, aber es iſt kein leuchtender Körper vorhan- den. Welch' eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller Art hier fließt, iſt leicht zu ſehen. Von den neckenden Geſtalten der monddurchglänzten Nebellandſchaft bis zu den wahnſinndrohenden Viſionen des Geiſterſehers haben wir eine Reihe von Täuſchungen, die alle nicht der Natur, nicht ihrer ſtrengen Geſetzlichkeit zur Laſt fallen, ſondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum unterworfenen Thätigkeit des Geiſtes gehören. Großer Umſicht, viel- ſeitiger Bildung bedarf es, ehe der Geiſt ſich hier von allen ſeinen eignen Irrthümern losmacht und ſie ganz beherrſchen lernt. Das Sehen im weitern Sinne des Wortes erſcheint uns ſo leicht und doch iſt es eine ſchwere Kunſt. Nur nach und nach lernt man, wel- chen Botſchaften der Nerven man vertrauen und danach ſeine Vor- ſtellungen formen dürfe. Selbſt Männer von Wiſſenſchaft können hier irren, irren oft und um ſo öfter, je weniger ſie darüber verſtän- digt ſind, wo ſie die Quellen ihres Irrthums zu ſuchen haben. Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß iſt es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botſchaften von ſeinen Dienern, den Nerven, empfängt, Befehle an ſie austheilt ohne ſich ihrer Ge- genwart überhaupt zunächſt bewußt zu werden. Erſt ſpät, erſt durch die weit fortgebildete Wiſſenſchaft erfährt der Menſch, daß Nerven exiſtiren und daß beſtimmte Functionen ihnen zugewieſen ſind. Er ſieht und weiß nichts von ſeinem Sehnerven, ihn ſchmerzt die ge- brannte Hand, aber er wird ſich der leitenden Faſer nicht bewußt, er bewegt ſpielend mit geläufiger Geſchwindigkeit die Zunge, aber er- fährt nichts von dem Wege, den die beſtimmenden Nerven nehmen.— 2*

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/35>, abgerufen am 25.04.2024.