die, welche die Russen "perekatipole" den Springinsfeld, die deutschen Colonisten fast noch bezeichnender die "Windhexe" nen- nen. Eine dürftige Distelpflanze zersplittert sie ihre Kraft in der Bildung zahlreicher, dürrer, dünner Zweiglein, die sich nach allen Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der Wermuth wird sie auch im dürftigsten Hungerjahr von keinem Vieh berührt. Die Kuppeln die sie im Rasen bildet, werden oft drei Fuß hoch, haben zuweilen 10--15 Fuß im Umfang und sind aus lauter zarten dünnen Aestchen gewölbt. Im Herbst fault der Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen federleichten Balle aus, den dann der Herbstwind durch die Lüfte über die Steppe führt. Viele solcher Bälle fliegen oft auf einmal über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter sie einholen kann, bald hüpfen sie in kurzen raschen Sprüngen über den Boden, bald wirbeln sie in großen Kreisen übereinander wegkugelnd zu ge- spenstischem Reigen auf den Rasen fort, bald steigen sie plötzlich vom Wirbel gefaßt zu hunderten hoch in die Luft. Oft häkelt sich eine Windhexe an die andere, zwanzig andere gesellen sich hinzu, die ganze riesige und doch luftige Masse rollt vor dem pfeifenden Ostwind da- hin. -- Man braucht wahrlich keine Felsenschlünde, keine Bergwerke, oder heulende Seestürme, um Nahrung genug für den Aberglauben des Menschen zu finden. -- Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe, wenn ein Landmann "sein Gehöfte gereinigt", d. h. den Burian auf demselben und alle Reste des durch die neue Erndte unbrauchbar gewordenen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäusen und anderem Ungeziefer in Brand gesteckt und dieser das dürre Gras der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Grase fährt er wie eine Schlange mit mäßiger Raschheit dahin, hier ergreift er einen Bu- rianbusch und mit gewaltigem Lärm, platzend und zischend lodert die Lohe hoch gen Himmel, dann eine Strecke mit üppigen Federgras erreichend zuckt sie in zarten weißen Flammen auf, schwingt sich mit schrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwischen zwei
die, welche die Ruſſen „perekatipole“ den Springinsfeld, die deutſchen Coloniſten faſt noch bezeichnender die „Windhexe“ nen- nen. Eine dürftige Diſtelpflanze zerſplittert ſie ihre Kraft in der Bildung zahlreicher, dürrer, dünner Zweiglein, die ſich nach allen Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der Wermuth wird ſie auch im dürftigſten Hungerjahr von keinem Vieh berührt. Die Kuppeln die ſie im Raſen bildet, werden oft drei Fuß hoch, haben zuweilen 10—15 Fuß im Umfang und ſind aus lauter zarten dünnen Aeſtchen gewölbt. Im Herbſt fault der Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen federleichten Balle aus, den dann der Herbſtwind durch die Lüfte über die Steppe führt. Viele ſolcher Bälle fliegen oft auf einmal über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter ſie einholen kann, bald hüpfen ſie in kurzen raſchen Sprüngen über den Boden, bald wirbeln ſie in großen Kreiſen übereinander wegkugelnd zu ge- ſpenſtiſchem Reigen auf den Raſen fort, bald ſteigen ſie plötzlich vom Wirbel gefaßt zu hunderten hoch in die Luft. Oft häkelt ſich eine Windhexe an die andere, zwanzig andere geſellen ſich hinzu, die ganze rieſige und doch luftige Maſſe rollt vor dem pfeifenden Oſtwind da- hin. — Man braucht wahrlich keine Felſenſchlünde, keine Bergwerke, oder heulende Seeſtürme, um Nahrung genug für den Aberglauben des Menſchen zu finden. — Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe, wenn ein Landmann „ſein Gehöfte gereinigt“, d. h. den Burian auf demſelben und alle Reſte des durch die neue Erndte unbrauchbar gewordenen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäuſen und anderem Ungeziefer in Brand geſteckt und dieſer das dürre Gras der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Graſe fährt er wie eine Schlange mit mäßiger Raſchheit dahin, hier ergreift er einen Bu- rianbuſch und mit gewaltigem Lärm, platzend und ziſchend lodert die Lohe hoch gen Himmel, dann eine Strecke mit üppigen Federgras erreichend zuckt ſie in zarten weißen Flammen auf, ſchwingt ſich mit ſchrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwiſchen zwei
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die, welche die Ruſſen „perekatipole“ den Springinsfeld, die
deutſchen Coloniſten faſt noch bezeichnender die „Windhexe“ nen-
nen. Eine dürftige Diſtelpflanze zerſplittert ſie ihre Kraft in der
Bildung zahlreicher, dürrer, dünner Zweiglein, die ſich nach allen
Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der
Wermuth wird ſie auch im dürftigſten Hungerjahr von keinem
Vieh berührt. Die Kuppeln die ſie im Raſen bildet, werden oft
drei Fuß hoch, haben zuweilen 10—15 Fuß im Umfang und ſind
aus lauter zarten dünnen Aeſtchen gewölbt. Im Herbſt fault der
Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen
federleichten Balle aus, den dann der Herbſtwind durch die Lüfte
über die Steppe führt. Viele ſolcher Bälle fliegen oft auf einmal
über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter ſie einholen
kann, bald hüpfen ſie in kurzen raſchen Sprüngen über den Boden,
bald wirbeln ſie in großen Kreiſen übereinander wegkugelnd zu ge-
ſpenſtiſchem Reigen auf den Raſen fort, bald ſteigen ſie plötzlich vom
Wirbel gefaßt zu hunderten hoch in die Luft. Oft häkelt ſich eine
Windhexe an die andere, zwanzig andere geſellen ſich hinzu, die ganze
rieſige und doch luftige Maſſe rollt vor dem pfeifenden Oſtwind da-
hin. — Man braucht wahrlich keine Felſenſchlünde, keine Bergwerke,
oder heulende Seeſtürme, um Nahrung genug für den Aberglauben
des Menſchen zu finden. — Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe,
wenn ein Landmann „ſein Gehöfte gereinigt“, d. h. den Burian
auf demſelben und alle Reſte des durch die neue Erndte unbrauchbar
gewordenen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäuſen
und anderem Ungeziefer in Brand geſteckt und dieſer das dürre Gras
der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Graſe fährt er wie eine
Schlange mit mäßiger Raſchheit dahin, hier ergreift er einen Bu-
rianbuſch und mit gewaltigem Lärm, platzend und ziſchend lodert
die Lohe hoch gen Himmel, dann eine Strecke mit üppigen Federgras
erreichend zuckt ſie in zarten weißen Flammen auf, ſchwingt ſich mit
ſchrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter
Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwiſchen zwei
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/343>, abgerufen am 24.11.2024.
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