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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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Der als Motto diesem Vortrag vorangeschickte Ausspruch eines
älteren Weisen mag vielleicht nicht ganz unbestritten dastehen; wenig-
stens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll-
kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondrisch, alle Blinde
dagegen heiter und fröhlich sind; das Auge führt uns nur in die
Körperwelt ein, das Ohr aber in unsere eigentliche Heimath, in
die Gemeinschaft geistiger Wesen. Nichts desto weniger läßt sich
nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner ist, dem wir theils
wirklich so viel Elemente unserer Kenntniß der uns umgebenden Welt
verdanken, theils so viel von dem, was wir wissen, wenn auch mit
Unrecht, zuschreiben, als der Sinn des Gesichts. Insbesondere
aber ist er es, der unser ganzes Wissen um die Körperwelt zuerst
einleitet und fortwährend erweitert und so mag man ihn wohl recht
eigentlich den Sinn des Naturforschers nennen. Ohne ihn wäre die
Naturwissenschaft kaum denkbar und so verdient er sicher vor allen
andern eine genauere Erwägung, die um so fruchtbarer ist, da das
meiste, was wir bei Betrachtung desselben als allgemein Gesetzliches
finden nicht nur auf ihn, sondern mit Berücksichtigung der eigen-
thümlichen Unterschiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne
überhaupt seine Anwendung findet.

Durchlaufen wir die Geschichte der allmäligen Entwicklung unse-
rer Naturwissenschaften, so tritt uns eine Erscheinung entgegen,
welche von dem größten Einfluß gewesen ist, fast immer hemmend,
verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Gesetzlichkeit
trübend, sich in die Forschungen eingemischt hat. -- Der Mensch,
wenn er über sich selbst nachdenkt, fühlt sich alsbald als Bürger

Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines
älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig-
ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll-
kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde
dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die
Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in
die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich
nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils
wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt
verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit
Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere
aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt
einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht
eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die
Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen
andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das
meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches
finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen-
thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne
überhaupt ſeine Anwendung findet.

Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe-
rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen,
welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend,
verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit
trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch,
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[[13]/0029] Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig- ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll- kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen- thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne überhaupt ſeine Anwendung findet. Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe- rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen, welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend, verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch, wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. [13]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/29>, abgerufen am 29.03.2024.