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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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und folgenden, der Jussien'schen Familie der Nesselpflanzen oder
Urticeen. Auffallend verschieden sind die hierhergehörigen Pflanzen in
ihrer äußern Bildung von den kleinsten, unscheinbarsten Kräutern, wie
unser gemeines Glaskraut und unsere Nesseln, bis zu den größten
und stattlichsten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus in-
tegrifolia
und incisa), die mit ihren weitgestreckten Aesten und breiten,
schöngeformten Blättern die Hütte des Südseeinsulaners beschatten,
welchen ihre schmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der
Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflanzen in ihren Saamen wohl-
schmeckende, nußähnliche Kerne spenden (so Aleurites triloba auf
den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der
Gruppe der Apocyneen schon mehrere Bäume die saftig kühlenden
und deshalb hochgeschätzten Früchte den Bewohnern der heißen Ge-
genden darbieten, Carissa Carandas in Ostindien, C. edulis in
Arabien u. s. w., so umfaßt die Familie der Urticeen die seltsamste
Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die kleinen ölreichen Körner des
Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büschel, welche anmuthig den
schlank sich windenden Hopfen zieren, die würzige Maulbeere, die
süße Feige, die nützliche Brodfrucht, alle diese so verschiedenen For-
men gehören einer Pflanzengruppe an und der Botaniker verfolgt in allen
die gleiche Grundbildung, so unvereinbar auch dem Laienauge diese
mannigfaltigen Bildungen scheinen mögen. Nur eine Eigenheit er-
streckt sich ohne Ausnahme auf alle Arten dieser zahlreichen Ordnung,
nämlich das Vorhandenseyn feiner und doch starker Bastfasern in der
Rinde dieser Pflanzen. Ursprünglich von den Fasern der Nessel (Ur-
tica cannabina
) gemacht, trägt noch jetzt das Nesseltuch ihren Namen,
und der Kunstfleiß des sanften Tahitiers bereitet die zartesten Stoffe
ohne Spinnrad und Webstuhl aus dem weißen, feinen Baste des Aute
oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent.).

Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Mexikaner
oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das
neuspanische Kaoutschouck, und die unbegreiflichen Mengen dieser
Substanz, welche von Ostindien unsern Häfen zugeführt werden, sind

und folgenden, der Juſſien'ſchen Familie der Neſſelpflanzen oder
Urticeen. Auffallend verſchieden ſind die hierhergehörigen Pflanzen in
ihrer äußern Bildung von den kleinſten, unſcheinbarſten Kräutern, wie
unſer gemeines Glaskraut und unſere Neſſeln, bis zu den größten
und ſtattlichſten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus in-
tegrifolia
und incisa), die mit ihren weitgeſtreckten Aeſten und breiten,
ſchöngeformten Blättern die Hütte des Südſeeinſulaners beſchatten,
welchen ihre ſchmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der
Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflanzen in ihren Saamen wohl-
ſchmeckende, nußähnliche Kerne ſpenden (ſo Aleurites triloba auf
den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der
Gruppe der Apocyneen ſchon mehrere Bäume die ſaftig kühlenden
und deshalb hochgeſchätzten Früchte den Bewohnern der heißen Ge-
genden darbieten, Carissa Carandas in Oſtindien, C. edulis in
Arabien u. ſ. w., ſo umfaßt die Familie der Urticeen die ſeltſamſte
Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die kleinen ölreichen Körner des
Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büſchel, welche anmuthig den
ſchlank ſich windenden Hopfen zieren, die würzige Maulbeere, die
ſüße Feige, die nützliche Brodfrucht, alle dieſe ſo verſchiedenen For-
men gehören einer Pflanzengruppe an und der Botaniker verfolgt in allen
die gleiche Grundbildung, ſo unvereinbar auch dem Laienauge dieſe
mannigfaltigen Bildungen ſcheinen mögen. Nur eine Eigenheit er-
ſtreckt ſich ohne Ausnahme auf alle Arten dieſer zahlreichen Ordnung,
nämlich das Vorhandenſeyn feiner und doch ſtarker Baſtfaſern in der
Rinde dieſer Pflanzen. Urſprünglich von den Faſern der Neſſel (Ur-
tica cannabina
) gemacht, trägt noch jetzt das Neſſeltuch ihren Namen,
und der Kunſtfleiß des ſanften Tahitiers bereitet die zarteſten Stoffe
ohne Spinnrad und Webſtuhl aus dem weißen, feinen Baſte des Auté
oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent.).

Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Mexikaner
oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das
neuſpaniſche Kaoutſchouck, und die unbegreiflichen Mengen dieſer
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[183/0199] und folgenden, der Juſſien'ſchen Familie der Neſſelpflanzen oder Urticeen. Auffallend verſchieden ſind die hierhergehörigen Pflanzen in ihrer äußern Bildung von den kleinſten, unſcheinbarſten Kräutern, wie unſer gemeines Glaskraut und unſere Neſſeln, bis zu den größten und ſtattlichſten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus in- tegrifolia und incisa), die mit ihren weitgeſtreckten Aeſten und breiten, ſchöngeformten Blättern die Hütte des Südſeeinſulaners beſchatten, welchen ihre ſchmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflanzen in ihren Saamen wohl- ſchmeckende, nußähnliche Kerne ſpenden (ſo Aleurites triloba auf den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der Gruppe der Apocyneen ſchon mehrere Bäume die ſaftig kühlenden und deshalb hochgeſchätzten Früchte den Bewohnern der heißen Ge- genden darbieten, Carissa Carandas in Oſtindien, C. edulis in Arabien u. ſ. w., ſo umfaßt die Familie der Urticeen die ſeltſamſte Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die kleinen ölreichen Körner des Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büſchel, welche anmuthig den ſchlank ſich windenden Hopfen zieren, die würzige Maulbeere, die ſüße Feige, die nützliche Brodfrucht, alle dieſe ſo verſchiedenen For- men gehören einer Pflanzengruppe an und der Botaniker verfolgt in allen die gleiche Grundbildung, ſo unvereinbar auch dem Laienauge dieſe mannigfaltigen Bildungen ſcheinen mögen. Nur eine Eigenheit er- ſtreckt ſich ohne Ausnahme auf alle Arten dieſer zahlreichen Ordnung, nämlich das Vorhandenſeyn feiner und doch ſtarker Baſtfaſern in der Rinde dieſer Pflanzen. Urſprünglich von den Faſern der Neſſel (Ur- tica cannabina) gemacht, trägt noch jetzt das Neſſeltuch ihren Namen, und der Kunſtfleiß des ſanften Tahitiers bereitet die zarteſten Stoffe ohne Spinnrad und Webſtuhl aus dem weißen, feinen Baſte des Auté oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent.). Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Mexikaner oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das neuſpaniſche Kaoutſchouck, und die unbegreiflichen Mengen dieſer Subſtanz, welche von Oſtindien unſern Häfen zugeführt werden, ſind

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/199>, abgerufen am 22.11.2024.