Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.Ueber die Entstehung der Arten. es eine bestimmte Gestalt zeige, so z. B. könne Niemand den Marmorso ganz im Allgemeinen erkennen, sondern nur dieses bestimmt gesta¬ tete Stück Marmor, diese bestimmte Bildsäule u. s. w. Aus diesen An¬ sichten entwickelte sich ihm die Vorstellung, daß die Form und nicht der Stoff, das Allgemeine und nicht das individuell Wirkliche an allen Dingen das allein Wesentliche, allein real Vorhandene sei. Bei der Fortbildung des Aristoteles im Mittelalter zur scholastischen Philo¬ sophie entwickelte sich aus diesen eigenthümlichen und unklaren Auffas¬ sungen die ganz grundfalsche Lehre des "Realismus" im Gegensatz zum "Nominalismus", jener mit der Behauptung, daß die Begriffe etwas real, in der Wirklichkeit Vorhandenes seien, dieser im Wider¬ spruch dagegen behauptend, daß die Begriffe nur Worte, bloße Na¬ men, für allmählich im menschlichen Geiste entstandene Vorstellungen seien, denen aber außerhalb der menschlichen Seele keine Realität zu¬ komme. Auf diese Weise schuf der Realismus in der That eine ganze, scheinbar wissenschaftliche Gespensterlehre, indem er die Begriffe, die immer bloße Formvorstellungen sind und welche die menschliche Seele nur als Hülfsmittel zum Denken braucht, für wirkliche Dinge, für Wesen erklärte. -- Durch Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Duns Scotus wurde diese Lehre die herrschende und zugleich die orthodoxe Kirchenlehre, weshalb der sich allmählich von diesem Irrwege losmachende Menschengeist auch anfänglich nur im ketze¬ rischen Widerspruch mit der Kirche auftreten konnte und sich nur ganz allmählich gegen die Verfolgungen derselben und im beständigen Kampfe mit den Lehren des Realismus geltend machte, -- ein Kampf, den zu¬ erst der Franciscaner Wihelm von Occam begann und der endlich durch die sich erhebenden und nach und nach sich entwickelnden Natur¬ wissenschaften und durch den Einfluß ihres Geistes beendigt wurde. Es liegt indessen in der Natur des Menschen, daß derselbe nur Ueber die Entſtehung der Arten. es eine beſtimmte Geſtalt zeige, ſo z. B. könne Niemand den Marmorſo ganz im Allgemeinen erkennen, ſondern nur dieſes beſtimmt geſta¬ tete Stück Marmor, dieſe beſtimmte Bildſäule u. ſ. w. Aus dieſen An¬ ſichten entwickelte ſich ihm die Vorſtellung, daß die Form und nicht der Stoff, das Allgemeine und nicht das individuell Wirkliche an allen Dingen das allein Weſentliche, allein real Vorhandene ſei. Bei der Fortbildung des Ariſtoteles im Mittelalter zur ſcholaſtiſchen Philo¬ ſophie entwickelte ſich aus dieſen eigenthümlichen und unklaren Auffaſ¬ ſungen die ganz grundfalſche Lehre des „Realismus“ im Gegenſatz zum „Nominalismus“, jener mit der Behauptung, daß die Begriffe etwas real, in der Wirklichkeit Vorhandenes ſeien, dieſer im Wider¬ ſpruch dagegen behauptend, daß die Begriffe nur Worte, bloße Na¬ men, für allmählich im menſchlichen Geiſte entſtandene Vorſtellungen ſeien, denen aber außerhalb der menſchlichen Seele keine Realität zu¬ komme. Auf dieſe Weiſe ſchuf der Realismus in der That eine ganze, ſcheinbar wiſſenſchaftliche Geſpenſterlehre, indem er die Begriffe, die immer bloße Formvorſtellungen ſind und welche die menſchliche Seele nur als Hülfsmittel zum Denken braucht, für wirkliche Dinge, für Weſen erklärte. — Durch Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Duns Scotus wurde dieſe Lehre die herrſchende und zugleich die orthodoxe Kirchenlehre, weshalb der ſich allmählich von dieſem Irrwege losmachende Menſchengeiſt auch anfänglich nur im ketze¬ riſchen Widerſpruch mit der Kirche auftreten konnte und ſich nur ganz allmählich gegen die Verfolgungen derſelben und im beſtändigen Kampfe mit den Lehren des Realismus geltend machte, — ein Kampf, den zu¬ erſt der Franciscaner Wihelm von Occam begann und der endlich durch die ſich erhebenden und nach und nach ſich entwickelnden Natur¬ wiſſenſchaften und durch den Einfluß ihres Geiſtes beendigt wurde. Es liegt indeſſen in der Natur des Menſchen, daß derſelbe nur <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0045" n="35"/><fw place="top" type="header">Ueber die Entſtehung der Arten.<lb/></fw>es eine beſtimmte Geſtalt zeige, ſo z. B. könne Niemand den Marmor<lb/> ſo ganz im Allgemeinen erkennen, ſondern nur dieſes beſtimmt geſta¬<lb/> tete Stück Marmor, dieſe beſtimmte Bildſäule u. ſ. w. Aus dieſen An¬<lb/> ſichten entwickelte ſich ihm die Vorſtellung, daß die Form und nicht der<lb/> Stoff, das Allgemeine und nicht das individuell Wirkliche an allen<lb/> Dingen das allein Weſentliche, allein real Vorhandene ſei. 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Ueber die Entſtehung der Arten.
es eine beſtimmte Geſtalt zeige, ſo z. B. könne Niemand den Marmor
ſo ganz im Allgemeinen erkennen, ſondern nur dieſes beſtimmt geſta¬
tete Stück Marmor, dieſe beſtimmte Bildſäule u. ſ. w. Aus dieſen An¬
ſichten entwickelte ſich ihm die Vorſtellung, daß die Form und nicht der
Stoff, das Allgemeine und nicht das individuell Wirkliche an allen
Dingen das allein Weſentliche, allein real Vorhandene ſei. Bei der
Fortbildung des Ariſtoteles im Mittelalter zur ſcholaſtiſchen Philo¬
ſophie entwickelte ſich aus dieſen eigenthümlichen und unklaren Auffaſ¬
ſungen die ganz grundfalſche Lehre des „Realismus“ im Gegenſatz
zum „Nominalismus“, jener mit der Behauptung, daß die Begriffe
etwas real, in der Wirklichkeit Vorhandenes ſeien, dieſer im Wider¬
ſpruch dagegen behauptend, daß die Begriffe nur Worte, bloße Na¬
men, für allmählich im menſchlichen Geiſte entſtandene Vorſtellungen
ſeien, denen aber außerhalb der menſchlichen Seele keine Realität zu¬
komme. Auf dieſe Weiſe ſchuf der Realismus in der That eine ganze,
ſcheinbar wiſſenſchaftliche Geſpenſterlehre, indem er die Begriffe, die
immer bloße Formvorſtellungen ſind und welche die menſchliche Seele
nur als Hülfsmittel zum Denken braucht, für wirkliche Dinge, für
Weſen erklärte. — Durch Albertus Magnus, Thomas von
Aquino und Duns Scotus wurde dieſe Lehre die herrſchende und
zugleich die orthodoxe Kirchenlehre, weshalb der ſich allmählich von
dieſem Irrwege losmachende Menſchengeiſt auch anfänglich nur im ketze¬
riſchen Widerſpruch mit der Kirche auftreten konnte und ſich nur ganz
allmählich gegen die Verfolgungen derſelben und im beſtändigen Kampfe
mit den Lehren des Realismus geltend machte, — ein Kampf, den zu¬
erſt der Franciscaner Wihelm von Occam begann und der endlich
durch die ſich erhebenden und nach und nach ſich entwickelnden Natur¬
wiſſenſchaften und durch den Einfluß ihres Geiſtes beendigt wurde.
Es liegt indeſſen in der Natur des Menſchen, daß derſelbe nur
ſehr ſelten von einem ganzen Irrthum mit einem Schritte zu der entge¬
genſtehenden ganzen Wahrheit übergeht, als daß es uns auffallen
dürfte, wenn wir gewahren, wie auch der Schritt vom Realismus zum
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